
© AFP/Kirill Zykov
„Freude, Verachtung und Überraschung“: Internationale Presse sieht Deal mit Putin kritisch – hat aber auch Hoffnung
Weltweit sehen die Medien die Vereinbarung mit Putin als historisch. Die Bewertungen gehen allerdings auseinander – auch bei der Frage, ob es einen politischen Gewinner gibt.
Stand:
Der Gefangenenaustausch zwischen dem Westen und Russland ist ein Topthema in den Medien. Die internationale Presse beschäftigt sich mit der deutschen Rolle bei dem Deal und bewertet das türkische Engagement. Konsens besteht, dass es für die Regierungen in Zeiten des Ukrainekriegs eine äußerst schwierige Entscheidung war.
Die Freude über die Befreiung der Menschen wie des US-Journalisten Evan Gershkovich vom „Wall Street Journal“ aus den Händen des russischen Machthabers Wladimir Putin ist groß, es werden auch Erklärungen gefordert, warum die Rückkehr zu den Methoden des Kalten Kriegs nötig war. Es wird aber auch die Hoffnung geäußert, dass dies ein erster Schritt in Richtung Friedensverhandlungen sein könnte. Eine Auswahl der Pressestimmen von der Nachrichtenagentur dpa:
USA
„Wall Street Journal“: Die US-Amerikaner und die freigelassenen russischen Dissidenten schulden dem deutschen Kanzler Olaf Scholz einen besonderen Dank. (...) Scholz setzte sich dem Risiko politischer Kritik im eigenen Land aus, indem er den Spion freiließ, den Putin entsandt hatte, um auf deutschem Boden zu töten. (...)
Gershkovich wurde nach seiner Verhaftung während einer Recherchereise 491 Tage lang festgehalten (...). Evan wurde letztlich der Spionage beschuldigt, aber Beweise dafür wurden in seinem Prozess nie öffentlich gemacht (...). Er war lediglich eine Schachfigur in dem neuen Spiel des Kremls, bei dem es darum geht, Geiseln zu nehmen, um sie als Druckmittel zu benutzen (...).
Die hässliche Wahrheit ist, dass Russland und andere rücksichtslose Regime Geiseln nehmen, weil es funktioniert. (...) Die derzeitige weltweite Wahrnehmung der Schwäche der USA hat schlimme Folgen für die Pressefreiheit und für US-Amerikaner im Ausland. (...) Etwas wird sich ändern müssen, sonst werden nach diesem Gefangenenaustausch noch mehr Amerikaner als Geiseln genommen. Dies wird im kommenden Jahr für Donald Trump ebenso gelten wie für Kamala Harris.“
SPANIEN
„ABC“: „26 Gefangene haben an einem Austausch teilgenommen, den der türkische Geheimdienst auf Ersuchen Washingtons und Moskaus organisiert hat. Obwohl die Türkei der Nato angehört, hat sie sich geweigert, wegen des Einmarsches in der Ukraine Sanktionen gegen Russland zu verhängen, und sie spielt eine zentrale Rolle als Vermittler zwischen dem Westen, Russland und dem Nahen Osten. (...)
Deutschland war das Land, das sich am stärksten dem Austausch widersetzt hatte. In seinen Gefängnissen saß der Mann, an dessen Wiedererlangung (der russische Präsident Wladimir) Putin am meisten interessiert war: der Auftragskiller und russische Geheimdienstagent Vadim Krassikow (der sogenannte Tiergartenmörder) (...) Im Gegenzug hat sich Putin bereit erklärt, den ,Wall Street Journal-Korrespondenten Evan Gershkovich freizulassen. (...)
Die Rückkehr zu diesen Praktiken des Kalten Krieges wirft mehrere Probleme auf. Erstens verlangen die heutigen Demokratien ein Höchstmaß an Transparenz und sind nicht bereit, Staatsräson blind zu akzeptieren, ganz gleich wie lobenswert ihre Ziele auch sein mögen. Zweitens ist die bewusste Entscheidung Russlands, Journalisten und politische Dissidenten mit erwiesenen Spionen und Attentätern gleichzusetzen, an sich schon eine Schande. (...) Dieser Austausch verlangt nach Erklärungen.“
GROSSBRTIANNIEN
„Times“: „Die erste Reaktion sollte Freude darüber sein, dass der Leidensweg von Evan Gershkovich ein Ende gefunden hat. Der Reporter des Wall Street Journal, der 2023 in Russland unter dem Vorwurf der Spionage verhaftet und vor zwei Wochen zu 16 Jahren strenger Lagerhaft verurteilt wurde, kam im Rahmen des größten Ost-West-Gefangenenaustauschs seit dem Kalten Krieg frei.
Die zweite Reaktion sollte Verachtung für eine aggressive Regierung sein, das auf zynische Weise westliche Journalisten und andere leicht festzunehmende Menschen zu Geiseln macht, um sie gegen Mörder, Waffenhändler und Spione einzutauschen, die im Westen inhaftiert sind, weil sie die schmutzige Arbeit des Kremls im Ausland verrichten.
Und die dritte Reaktion sollte Überraschung darüber sein, dass es der Biden-Administration in einer Zeit fast beispielloser Spannungen mit Russland gelungen ist, eine Vereinbarung zu erzielen, die auch zur Befreiung einer Reihe mutiger Russen geführt hat, die sich gegen Missstände und Unterdrückung eingesetzt und dafür mit langen Haftstrafen bezahlt haben.“
BELGIEN
„De Standaard“: „Einer der 26 ausgetauschten Gefangenen ist (der US-Journalist) Evan Gershkovich. Er war von Russland fälschlicherweise der Spionage beschuldigt und zu 16 Jahren Gefängnis verurteilt worden. (...) Acht Russen, die in europäischen und amerikanischen Gefängnissen saßen, kehren nach Russland zurück. Unter ihnen der Auftragskiller Wadim Krassikow, der in einem Berliner Park einen tschetschenischen Dissidenten ermordet hat. Ein Auftragsmörder für einen Journalisten. Auch dieser Deal sieht nach Erpressung aus. (...)

© Imago/Upi/Jemal Countess
Russland empfängt Krassikow nun wie einen Helden. Die russischen Regimekritiker, die der Westen befreit hat, sieht der Kreml gerne gehen. Exilanten verschwinden schneller aus den Nachrichten als Märtyrer in russischen Zellen. Aber das macht Russland nicht zum Gewinner dieser Erpressung. Das sind und bleiben jene Länder, denen es vor allem um die Freiheit unschuldiger Bürger geht.“
SCHWEIZ
„Neue Zürcher Zeitung“: „Im umfangreichsten Gefangenenaustausch zwischen dem Westen und Russland seit Ende des Kalten Krieges war der ,Tiergartenmörder’ die zentrale Figur. (.) Nun hat die Bundesregierung ihn tatsächlich überstellt, damit mehrere Gefangene freikommen, unter anderem der in Weißrussland zunächst zum Tode verurteilte deutsche Staatsbürger Rico K.
Aber es ging bei diesem Deal vor allem um zwei Amerikaner: den zu sechzehn Jahren Lagerhaft verurteilten amerikanischen Reporter Evan Gershkovich und den Militärangehörigen der amerikanischen Marine, Paul Whelan. Das war die Hauptsache. Und es zeigt: Deutschland kommt den USA weit entgegen. (.)
Es geht hier allerdings um mehr als Moral. Es geht vor allem im Falle Deutschlands um Realpolitik. Das Land ist in besonderer Weise abhängig von den USA, erst recht seit dem russischen Überfall auf die Ukraine. Anders als Großbritannien und Frankreich besitzt es keine eigenen Nuklearwaffen. Es braucht den amerikanischen Schutzschirm. (.) Einen solchen Verbündeten verprellt man nicht. Auch wenn das bedeutet, einen Mörder freizulassen.“
RUSSLAND
„Kommersant“: „Am Donnerstag fand auf dem Flughafen von Ankara ein historisches Ereignis statt: der Austausch von Gefangenen aus sieben Ländern. Zehn Personen kehrten aus den Vereinigten Staaten, Deutschland, Norwegen, Polen und Slowenien nach Russland zurück. Sie wurden vom russischen Präsidenten Wladimir Putin persönlich auf dem Flughafen Wnukowo-2 in Empfang genommen. Im Gegenzug lieferten Russland und Belarus 16 Gefangene an westliche Länder aus.
Unter den ausgetauschten Gefangenen befinden sich der Russe Wadim Krassikow, für dessen Freilassung sich Wladimir Putin persönlich eingesetzt hatte, sowie die Amerikaner Evan Gershkovich und Paul Whelan, deren Freilassung zuvor von US-Präsident Joe Biden als vorrangig bezeichnet worden war. Experten waren sich nicht einig, ob diese Vereinbarung als Zeichen einer möglichen Verbesserung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen zu werten ist. (.)
In der Geschichte Russlands hat es noch nie einen Austausch in diesem Ausmaß gegeben. (.) Das Wichtigste für die russischen Behörden scheint die Heimholung von Wadim Karassikow (auch bekannt als Wadim Sokolow) gewesen zu sein. Im Februar sagte der russische Präsident Wladimir Putin über Wadim Krassikow, er habe „aus patriotischen Gründen einen Banditen (den tschetschenischen Feldkommandanten und Militanten ...) in einer der europäischen Hauptstädte (Berlin. - Kommersant) liquidiert“.
In Deutschland wurde Wadim Krassikow, den die örtlichen Ermittler für einen FSB-Offizier hielten, zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Die deutsche Regierung sagte am Donnerstag vor Journalisten, die Entscheidung, ihn freizulassen, sei Berlin ,nicht leicht gefallen’.“
„Nesawissimaja Gaseta“: „Russland und der Westen haben einen großen Austausch vollzogen, mit langfristigen Folgen. Die russischen Behörden und ihre Gegner haben vorübergehend einige ihrer menschlichen Vorwürfe gegeneinander aufgehoben. (...)
Die Ereignisse des 1. August 2024 werden in die Geschichte eingehen, aber es ist nicht klar, in welcher Eigenschaft: entweder als Zeichen der bevorstehenden Versöhnung zwischen Russland und dem Westen oder lediglich als Illustration der unterschiedlichen Wertesysteme, die von Beamten in verschiedenen Ländern vertreten werden.
Was auch immer die langfristigen Folgen des Austauschs sein mögen, eine führende Persönlichkeit der Welt hat bereits davon profitiert: der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. Er hat sehr hart daran gearbeitet, den Ruf seines Landes als Vermittler wichtiger Weltprobleme zu sichern, und es ist ihm gelungen.“
ITALIEN
„La Repubblica“: „Für den Gefangenenaustausch zwischen Russland und den Vereinigten Staaten gibt es keinen Präzedenzfall, weder hinsichtlich der Zahl der betroffenen Personen noch der Zahl der Staaten. Er könnte ein Signal sein, dass sich zwischen Moskau und Washington etwas in Bewegung ist, um auch im Ukraine-Krieg zu einer diplomatischen Lösung zu kommen. (...)
Bekannt ist, dass (US-Präsident Joe) Biden aus Vergeltung für den ihm aufgezwungenen Rückzug vom Präsidentenamt mit einem großen Erfolg abschließen möchte, indem er zumindest einen der beiden Kriege beendet, die die Welt erschüttern.
Kurzfristig scheint der Krieg in der Ukraine besser lösbar zu sein als jener im Nahen Osten. In jeder Krise steckt eine Chance: Sowohl (Russlands Präsident Wladimir) Putin als auch Biden könnten der Meinung sein, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um das Blatt zu wenden, bevor die amerikanischen F-16-Kampfbomber, die Kiew zur Verfügung gestellt werden, das militärische Gleichgewicht verändern oder Moskau als Antwort den Einsatz ausweitet. Von einem Gefangenenaustausch zu einem Kurswechsel im Krieg in der Ukraine.“ (lem)
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