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Donald Trump nutzt Schwächen seiner Gegenüber gnadenlos. Friedrich Merz wird das zu spüren bekommen.

© Gestaltung: Tagesspiegel/Kostrzynski; Imago/Media Punch, Reuters/Lisi Niesner

Merz, Trump und die EU am 80. Jahrestag des Kriegsendes: Deutschland und Europa bleiben auf die USA angewiesen

Auf die USA ist kein Verlass mehr. Deutschland sucht sichere Bündnisse in Europa – macht sich aber durch die Querelen um die Kanzlerwahl selbst zum zweifelhaften Partner.

Christoph von Marschall
Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Stand:

Die Geschichte schreibt ihre eigenen Pointen. Und manchmal wirken sie wie eine Mahnung, die eigenen, lieb gewonnenen Sichtweisen zu überprüfen und sie jedenfalls nicht allzu sehr zuzuspitzen.

Am Donnerstag begehen Westeuropa und die USA den 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa. Russland folgt einen Tag später.

80 Jahre Kriegsende in Europa fallen zusammen mit dem dritten Tag des Kanzlers Merz – nach einer im ersten Anlauf gescheiterten Wahl – und 108 Tagen Präsident Donald Trump. Und, auch das, rund 25 Jahren Wladimir Putin als Russlands starkem Mann. Doch was ist genau die Pointe dieser Koinzidenz?

Am 7. Mai hatten Hitlers Armeen im Westen im Hauptquartier des amerikanischen Oberbefehlshabers der westlichen Alliierten, Dwight Eisenhower, in Reims kapituliert und das Ende der Kampfhandlungen für den 8. Mai vereinbart.

Die Sowjetunion bestand auf einer weiteren Kapitulationszeremonie in ihrem Hauptquartier in Berlin-Karlshorst gegenüber den sowjetischen Truppen. Da hatte nach russischer Zeitrechnung bereits der 9. Mai begonnen. Deshalb feiert Russland das Kriegsende einen Tag später.

8. Mai 2025: Tag einer zweiten Befreiung?

Die bedingungslose Kapitulation nach annähernd sechs Jahren Krieg und singulären Menschheitsverbrechen – deren Dimension freilich erst mit Verzögerung ins Bewusstsein drang – hat die Psyche und Selbstsicht der Deutschen stark geprägt.

War es eine schmachvolle Niederlage? Oder umgekehrt eine Befreiung? Nämlich die Voraussetzung für die Rückkehr in den Kreis akzeptierter Nationen durch Reue und Einsicht in die außerordentliche Schwere der Schuld? Es dauerte 40 Jahre, ehe ein Bundespräsident, Richard von Weizsäcker, den Zwiespalt offen aussprach – und sich für die Deutung „Befreiung“ entschied.

Was für eine Blamage wäre das gewesen, hätte Merz die Antrittsbesuche in Paris und Warschau absagen müssen.

Christoph von Marschall, Diplomatischer Korrespondent der Chefredaktion

Der 80. Jahrestag hatte das Potenzial, zu einem zweiten Tag der Befreiung zu werden – der Befreiung von der deutschen Fixierung auf die USA beim Bemühen um Wiedergewinnung eines neuen Selbstwertgefühls. Freilich hat auch dieser Emanzipationswunsch mehr als eine Seite.

Dank eines erfolgreichen zweiten Wahlgangs wurde Friedrich Merz am Dienstag doch noch zum Kanzler gewählt. So konnte er am Mittwoch seine Antrittsbesuche in Paris und Warschau wie geplant machen. Was für eine Blamage wäre das gewesen, hätte er diese ersten Reisen absagen müssen.

Kiew steht als Nächstes hoch auf der Prioritätenliste. Sowie, natürlich, Brüssel und London. Washington? Schau’n mer mal. Irgendwann später.

Deutschland als Unsicherheitsfaktor, neben Trump

Das klingt nach einer Revolution der Allianzsysteme. Sind die USA „out“, weil Donald Trump jetzt der Präsident ist? Und können die europäischen Partner den teils verunsicherten, teils unzuverlässigen Deutschen den Rückhalt und die Einbindung als Schutz gegen neue Abenteuer garantieren? Dafür standen bisher die USA als westliche Vormacht.

Genau da liegt der Grund für die Warnung vor einem Überstrapazieren der Pointen. Trump ist nicht der einzige unsichere Partner im Westen. Deutschland ist es leider auch.

Die Rehabilitierung durch die USA, die neue Supermacht nach 1945, war für viele Deutsche nach dem Krieg weit wichtiger gewesen als die Sicht der Briten oder Franzosen. Aber hat ein Kanzler für seine erste Reise je die USA ausgewählt? Das scheiterte über viele Jahrzehnte schon allein an der Entfernung und den Reisezeiten.

60 Jahre Bundesrepublik Deutschland
Am 7. Dezember 1970 kniet Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Ehrenmal in Warschau, das den Helden des Ghetto-Aufstands von 1943 gewidmet ist. Willy Brandt ist von 1969 bis 1974 vierter Kanzler der Bundesrepublik und beginnt mit den Ostverträgen den Dialog mit Moskau und Warschau.

© dpa

Moskau wurde mit Beginn der Ostpolitik Willy Brandts vorübergehend ein Ziel – nicht für die erste, aber für eine der ersten Reisen. Der Weg zu den direkten Nachbarn in Prag und Warschau führte zu Sowjetzeiten über den Kreml.

Dann kam der Mauerfall. Die Wiedervereinigung hatten allein die USA vorbehaltlos unterstützt. Frankreich und Großbritannien zögerten. Paris blieb gleichwohl auch nach 1989 die erste Wahl im Westen.

Erst Warschau, dann Moskau: Das war revolutionär

Im Osten verdrängte Polen als größter, direkter Nachbar allmählich Russland als oberste Priorität. Angesichts von Putins Angriffskrieg mag dieser Prioritätenwechsel heute wie eine Selbstverständlichkeit erscheinen. Vor 25 Jahren war die Umwertung „Erst Warschau, dann Moskau“ revolutionär.

Allianzsysteme und Bündnisprioritäten wandeln sich mit der Entwicklung internationaler Beziehungen. Die USA sind unter Trump zu einem Unsicherheitsfaktor für Deutschland und Europa geworden. Das macht den Zusammenschluss in Europa umso attraktiver und nötiger.

Zugleich gilt: Deutschland und Europa bleiben auf die USA angewiesen, auch weil sie sich noch immer nicht aus eigenen Kräften verteidigen können.

Nicht allein Merz – Deutschland ist beschädigt

Der Umgang mit gut 100 Tagen Trump und der Kanzlerwahl illustrieren, dass Deutschland sich noch immer schwertut, seine reale Lage zu erkennen. Bei allen inhaltlichen Konflikten mit Trump wissen und respektieren die Nachbarn Frankreich und Polen, dass sie eine Arbeitsbeziehung zum US-Präsidenten haben müssen – egal, wer das ist.

In Deutschland leisten sich viele die Illusion, sie hätten die freie Wahl, ob sie mit Trumps USA pragmatisch kooperieren, soweit es nottut. Oder Fundamentalopposition betreiben.

Und es passt auf traurige Weise zu dieser deutschen Mischung aus Realitätsverweigerung, Nabelschau und Traumtänzerei, dass verantwortungslose Quertreiber in den beiden Regierungsparteien Merz im ersten Wahlgang die Stimme verweigerten.

Sie haben nicht allein Merz beschädigt. Sie haben dem internationalen Vertrauen in die Verlässlichkeit Deutschlands geschadet.

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