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Rede zur Lage Europas: Von der Leyen muss die EU nahbarer machen
An diesem Mittwoch hält die Kommissionspräsidentin ihre Rede zur Lage der Union. Nach außen wie nach innen steckt die EU in der Defensive – und verliert zugleich das Vertrauen vieler Bürger.

Stand:
Bereits bevor Ursula von der Leyen an diesem Mittwoch zur jährlichen Rede zur Lage der Union vor das Europäische Parlament in Straßburg tritt, steht eines fest: Sie wird es niemandem recht machen können.
Die Kommissionspräsidentin ist um ihren Job nicht zu beneiden. Die geopolitische Lage könnte komplexer nicht sein. Die europäische Politik erscheint als permanente Reaktion auf das Handeln anderer Staaten: Putins Aggression, Xis Dominanzstreben, Trumps Größenwahn.
Auch im Inneren steht die EU vor massiven Problemen. Europa ist zutiefst gespalten – die schwierigen Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament spiegeln dies. Wichtige Mitgliedstaaten, allen voran Frankreich, müssen mit politischen Krisen kämpfen; ihnen fehlt die Kraft, an einem starken Europa zu bauen. Die wachsende Staatsverschuldung in Frankreich, der zweitgrößten Volkswirtschaft der Eurozone, könnte für die gesamte Währungsunion zur Belastung werden.
In dieser Lage steht auch von der Leyen selbst zunehmend in der Kritik. Von beiden Seiten des politischen Spektrums und sogar aus den eigenen Reihen. Und auch in Bevölkerung: Laut einer aktuellen Umfrage für die französische Onlinezeitung „Le Grand Continent“ befürworten 60 Prozent der Befragten in den fünf größten Mitgliedstaaten einen Rücktritt der Kommissionspräsidentin. Zentraler Kritikpunkt ist der Handelsdeal zwischen der EU und den USA. 72 Prozent trauen ihr nicht zu, die europäischen Wirtschaftsinteressen zu verteidigen. 52 Prozent geben an, sich für den Deal „geschämt“ zu haben.
Wie viele der Befragten vermögen auszubuchstabieren, was der Handelsdeal für Europa und sie selbst im Detail bedeutet? Sicherlich nur eine Minderheit. Für die meisten beruht es vermutlich eher auf einer Empfindung, dem Gefühl, dass es für Europa und sie selbst nicht gut läuft. Und genau das ist bezeichnend für die Lage der EU.
Die Vorteile der europäischen Integration sind für die meisten Bürgerinnen und Bürger schnell zur Selbstverständlichkeit geworden: der Euro, die Freizügigkeit, der historische Frieden in Europa. Stattdessen dient die EU als dankbarer Sündenbock. Kann ein Problem auf nationaler Ebene nicht gelöst werden, ist bestimmt Brüssel schuld. Europaweit gewinnen EU-kritische Bewegungen seit einigen Jahren enorm an Zulauf.
Es ist jedoch auch die Unnahbarkeit der Brüsseler Politik, die ihren Gegnern als fruchtbarer Boden dient. Viele Vorhaben bleiben für den Einzelnen schwer greifbar. Was bedeuten der umstrittene Green Deal, die Kapitalmarktunion, der interne Rüstungsmarkt für den Einzelnen?
Hier braucht es mehr Nähe, eine bessere Übersetzung dessen, was die EU für ihre Bürger leistet. Kurz: Eine neue politische Kultur. Angefangen von einer stärkeren Präsenz in den Mitgliedstaaten. Wie viele der 27 EU-Kommissare kann der durchschnittliche EU-Bürger aufzählen? Vermutlich nicht mehr als eine Handvoll. Wie auf nationaler Ebene muss der regelmäßige Austausch mit Bürgern in den Mitgliedstaaten auch für die EU-Kommissare selbstverständlich werden. Die EU-Bürger müssen sie kennen und sich mit ihnen identifizieren können.
Dazu gehört auch eine positive europäische Erzählung, die die Erfolge des vereinten Europas feiert und für den Einzelnen herunterbricht. Stoff dafür gibt es wahrlich genug. Zwei Beispiele: Im Human Development Index der UN sind unter den Top Ten nur zwei nicht-europäische Länder. Im World Press Freedom Index liegen gar alle 15 erstplatzierten Staaten in Europa.
Neun Länder bewerben sich derzeit um den EU-Beitritt und unterwerfen sich dafür aufwendigen Prozeduren. Warum? Weil die EU ein Erfolgsprojekt ist. Ein Garant für Sicherheit und einen hohen Lebensstandard.
Die meisten EU-Bürger werden von der Leyens Rede zur Lage der EU bestenfalls am Rande wahrnehmen. Was die Kommissionspräsidentin darin sagt, wird auch nicht entscheidend sein für die Zukunft der EU. Sondern, ob es ihr gelingt, einen politischen Wandel einzuleiten: hin zu einem nahbaren Europa, das auch in Zeiten von Unsicherheit und Krisen für ein glaubhaftes Schutzversprechen an seine Bürger steht.
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