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Solidarität nach dem 7. Oktober: Israel verteidigte sich – und plötzlich wurde es still
Nach dem Hamas-Massaker verstand unsere Autorin: Israel kämpft nicht nur für sich, sondern für die gesamte freie Welt. Dass diese mit Kritik reagiert, stärkt Extremisten auch in Deutschland.
Stand:
Am 7. Oktober 2023 um 6.28 Uhr war die Welt in Israel in Ordnung. Inklusive der sporadischen Hamas-Raketen auf die Städte und Kibbuzim im Süden, der Terroranschläge in Jerusalem und der täglichen Drohungen der Hisbollah und der Mullahs im Iran.
Um 6.29 Uhr zerbrach diese absurde Ordnung des Nahen Ostens und des Alltags in Israel. Wir Juden erlebten das schlimmste Massaker seit dem Holocaust. Als ich diesen Satz Tage später zum ersten Mal in einem Interview mit dem deutschen Fernsehen sagte, brach ich ein Prinzip. Denn es gibt keinen Vergleich mit dem Holocaust. Aber der Horror auf meinem Handy, die Bilder von geköpften Babys, von vergewaltigten und verstümmelten Frauen, von verbrannten Familien, der Horror dieses Anblicks war der Horror, der mich in meiner Münchner Jugend als Enkelkind von Holocaust-Überlebenden immer wieder traf.
Mit dem Entsetzen kam Klarheit. Einige Klarheiten.
Die erste: Die Bestialität der palästinensischen Dschihadisten kennt keine Grenzen. Hamas ist Isis, ist Teil der teuflischen Allianz, die der Iran befehligt, ausrüstet und finanziert. In enger Waffenbrüderschaft mit Russland und Nordkorea.
Die zweite: Israel kämpft nicht nur für sich selbst. Sondern für die gesamte freie Welt.
Noch eine Klarheit? Solidarität ist eine kostbare Währung, allerdings inflationär gefährdet und entwertet.
In den ersten Wochen nach dem 7. Oktober stieg ihr Wert dorthin, wo er für die zivilisierte Welt hingehörte: ganz nach oben. Solidarität war Konsens, das überfallene Nova-Festival wurde zum Symbol der freien und lebensfrohen Welt.
Die Tiktok-Intifada verwandelte das Schweigen in schrilles Geschrei
Dann verteidigte sich Israel, griff den Gazastreifen an, um die Geiseln zu befreien und das Mörderregime der Hamas zu zerstören. Nie wieder sollte ein Kind in Israel von blutrünstigen Terroristen aus seinem Bett gerissen werden, ermordet, gequält oder verschleppt werden.
Und sofort brach der Wert der Solidarität ein. Mit jedem Tag mehr. Stattdessen verbreiteten „Experten“ und Moderatoren in den Medien äquidistante Kommentare. Die Forderung nach Freilassung der israelischen Geiseln wurde immer schwächer artikuliert. Und schließlich beherrschten vulgäre, antisemitische und israelfeindliche Hetztiraden Instagram, X und Co. Die öffentlich-rechtlichen Sender gaben Hamas-Verstehern viel Raum – und Israel endlose Ratschläge, die zumeist darauf hinausliefen, es solle auf seine Verteidigung verzichten.
In dieser Zeit rotierte der Motor der palästinensischen Propagandamaschine auf Hochtouren und ließ den Wert der Solidarität mit Israel in ein historisches Tief stürzen. Die Tiktok-Intifada verwandelte das laute Schweigen in schrilles Geschrei. Es wurde hip, auf pro-palästinensischen Demos Hassparolen zu grölen, „From the river to the sea“ wurde das Mantra indoktrinierter Studenten, die sich in ihrer neuen Identität als Gröler suhlten. Sie machten aus blutrünstigen Terroristen Freiheitskämpfer. Aus den tanzenden Opfern des Nova-Festivals wurden Besatzer, die ihr Schicksal verdient hatten. Aus Geiseln, darunter Frauen und kleine Kinder, wurden Gefangene, gleichwertig mit gefangenen Terroristen der Hamas.
Dass weder Putins Angriff auf die Ukraine noch der 7. Oktober die Linse des Wunschdenkens in eine messerscharfe Lupe verwandelt haben, ist Grund zu ernster Sorge.
Melody Sucharewicz
Israel verteidigte sich. Und plötzlich wurde es still. Und es blieb still, als Tag für Tag Hisbollah-Raketen auf Israels Norden einprasselten, eine Mutter und ihren Sohn in ihrem Wohnzimmer töteten, zwölf spielende Kinder auf dem Fußballplatz zerschmetterten. Als über 60.000 Familien aus ihren Heimen evakuiert werden mussten, um den Raketen und der Gefahr eines weiteren Massakers im Stil des 7. Oktober zu entkommen. Elf Monate lang wartete Israel diplomatische Bemühungen ab, die Hisbollah zur Umsetzung der UN-Resolution 1701 zu bewegen. Vergebens. Fast 50 israelische Zivilisten wurden in dieser Zeit von Raketen der Hisbollah ermordet. Sie zahlten den Preis für die Naivität der internationalen Gemeinschaft, die glaubte, man könne eine islamistische Terrororganisation im diplomatischen Gespräch zur Einsicht bringen.
Israel verteidigt sich. Es liquidiert den Schlächter, der Zehntausende Raketen auf Israel feuerte. Und reflexartig kommt Kritik aus Deutschland und anderen Demokratien. Manchmal absurd bis zur unerträglichen Banalität: Israel schade damit seiner Sicherheit, hieß es aus dem Auswärtigen Amt. Wenige Wochen nachdem Berlins militärische Unterstützung für Israel zu stottern anfing und Deutschland sich seiner Stimme enthielt bei einer evident anti-israelischen Uno-Abstimmung.
Extremisten frohlocken über Rufe nach einer Feuerpause
Nolens volens fragt man sich: Wo ist sie, die berühmte Staatsräson? Besser gesagt: Gibt es sie? Zwischen herzerwärmenden Solidaritätsbekundungen und offenen Armen und Herzen für die Angehörigen der Geiseln war es immer wieder da, das paradoxe Stottern. Der verblendete Blick auf das dunkelste Jahr für Israel seit seiner Gründung. Der Subtext, wenn Netanjahu nur wollte, wären die Geiseln zu Hause und der Nahe Osten stabil und heiter. Dass weder Putins Angriff auf die Ukraine noch der 7. Oktober die Linse des Wunschdenkens in eine messerscharfe Lupe verwandelt haben, ist Grund zu ernster Sorge.
Die Gefahren, die Israel jetzt mit dem Blut seiner Soldaten, der Brillanz seiner Sicherheitsapparate und der unfassbaren Resilienz seiner Heimatfront bekämpft, sind die Gefahren, die an Deutschlands und Europas Pforte klopfen. Die Extremisten, die auf den Straßen Berlins das Massaker der Hamas und die Raketen der Ajatollahs gegen den jüdischen Staat feiern, lauschen den Statements der deutschen Regierung.
Sie lachen sich vermutlich ins Fäustchen angesichts der rekordverdächtig häufigen Forderung nach einer Feuerpause, auch wenn damit Israels Suizid gefordert wird. Sie frohlocken über den Druck auf Israel, mehr für die Befreiung der Geiseln zu tun, während der Henker Sinwar sie in seinen Tunneln als Schutzschilde hält. Hören sie die Rufe nach mehr humanitärer Hilfe für Gaza, können sie ihr Glück kaum fassen. Währenddessen füllen sich die Hamas-Kader Bäuche und Taschen, indem sie die Lieferungen plündern und auf Märkten verkaufen, flankiert vom Roten Kreuz, das seit Monaten kein Wort verliert über die hungernden, gefolterten Geiseln.
In der Summe machen die Fanatiker eine lernpsychologisch verheerende Erfahrung. Die Folgen werden Deutschland und die gesamte freie Welt in absehbarer Zeit ins Gesicht schlagen.
Mit dem 7. Oktober kam die Dunkelheit. Mit der Dunkelheit kam Klarheit.
Die Solidarität der Anständigen macht uns Mut
Am 7. Oktober 2024 um 6.29 Uhr heulten die Sirenen, die unsere Kinder in Israel vor genau einem Jahr aus den Betten rissen. Diesmal heulten sie am Platz der Hamas-Geiseln in Berlin, dem Bebelplatz, an dem 1933 Nazis Bücher jüdischer Autoren verbrannten. Hier stehen heute Überreste der Bücher von Carmel Gat, die aus dem Haus ihrer Eltern in Kibbutz Be’eri entführt wurden. Neben einem nachgebauten Hamas-Tunnel, der übergroßen Sanduhr und einem verbrannten Wohnzimmer.
Carmel war eine wundervolle junge Frau, die am 7. Oktober von Hamas-Terroristen nach Gaza verschleppt und vor wenigen Wochen von der Hamas exekutiert wurde. Die Geschichte von ihrer Familie und dem Terror, den ihr Bruder Alon Gat mit seiner dreijährigen Tochter überlebt hat, symbolisiert die Dunkelheit, mit der wir seit einem Jahr (über-)leben. Gleichzeitig zeigt uns ebendiese Familie, wie man Trauer und Schmerz in Kraft und Aktion wandelt. Elf Monate kämpfte Alon wie ein Löwe für die Freilassung seiner Schwester. Jetzt kämpft er für die verbleibenden 101 Geiseln.
Ich werde nie vergessen, wie Bundespräsident Steinmeier mit der Familie von Alon und anderen Angehörigen der Geiseln weinte bei unserem Besuch in Schloss Bellevue. Wie Tausende von Menschen jubelten, als wir den Bebelplatz symbolisch in den „Platz der Hamas-Geiseln“ umbenannten, und uns dankten, diesen Raum für Solidarität mit den Geiseln geschaffen zu haben. Wie der Regierende Bürgermeister Haltung zeigte, als er von Extremisten besetzte Unis räumen ließ und einem pro-palästinensischen Aktivisten klarmachte, dass die israelische Flagge so lange am Roten Rathaus hängt, bis alle Geiseln befreit sind. Er setzte sich dafür ein, dass es in Berlin am 7. Oktober wieder einen Platz der Hamas-Geiseln gibt. Und Berlins Kultursenator stellte sich auf die richtige Seite, den wüsten Anfeindungen zum Trotz.
Die reale Gefahr zwingt uns zum Kampf. Die Solidarität der Anständigen gibt uns Mut.
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