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Jean-Michel Basquiat und Andy Warhol schufen 1985 gemeinsam das großformatige Gemälde „6.99“ (297 x 410 Zentimeter).

© Nicola Erni Collection Photo : © Reto Pedrini Photography © The Estate of Jean-Michel Basquiat. Licensed by Artestar, New-York. © The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. / Licensed by ADAGP, Paris 2023

Ausstellungsempfehlungen der Kulturredaktion: Fünfmal Kunst für das Frühjahr

Straßenfotografie in Schwarzweiß, verführerische Blumen, Bilder einer Freundschaft, Provokunst und eine späte Würdigung.

1 Mit der Kamera durch Tokio

„Streunender Hund“, 1971 in Misawa.
„Streunender Hund“, 1971 in Misawa.

© C/O Berlin/Daidō Moriyama

Vor zwei Jahren kam ein Kinofilm über die japanische Fotografie-Legende Daido Moriyama ins Kino. Der Film zeigte, wie der Mann sich mit seiner Kamera durch die Straßen Tokios bewegt und Bilder einfängt, lässig spazierend, rennend, sich schnell dorthin drehend, wo er etwas entdeckt, ohne je durch den Sucher zu schauen. Es ist aber nicht die Kunst des Schnappschusses, die Moriyamas Werk so faszinierend macht, sondern seine Art, Fotografie völlig anders zu denken: als abstraktes Gemälde, als Zeichnung, als Filmstill.

Auch mit dem Fluss der Bilder hat der heute 84-Jährige viel experimentiert, berühmten etwa seine Schwarz-Weiß-Serie „How to create a beautiful Picture“. 1938 geboren, begann Moriyama in den 1960er Jahren zu fotografieren, er war Teil einer japanischen Künstler-Avantgarde und Mitgründer des subversiven „Provoke movement“, das für kurze Zeit ein gleichnamiges Fotomagazin herausbrachte, das bis heute stilbildend ist. Moriyamas kontrastreiche, grobkörnige Straßenfotografie zeigt verschwommene Gestalten im Dickicht der Stadt, Outlaws und Prostituierten, Läden, Treppenaufgänge, Straßenecken und streunende Hunde.

Die Bilder sind voller Lebendigkeit und Hektik. Das Chaos der Metropole faszinierte Moriyama faszinierend, ob in Tokio, Paris London oder New York. Das Fotohaus C/O Berlin bringt eine in São Paulo konzipierte Retrospektive Moriyamas erstmals nach Europa. Eine rare Gelegenheit, um zu sehen, wie zeitlos diese Bilder sind. „Die Vergangenheit ist immer neu, die Zukunft ist immer nostalgisch“, lautet ein Spruch des Künstlers, der auch zum Titel des Films über ihn wurde. (Birgit Rieger)

Daido Moriyama. Retrospektive., C/O Berlin, 13. Mai bis 7. September 2023

„Eine Orchidee“ von Georgia O’Keeffe aus dem Jahr 1941.
„Eine Orchidee“ von Georgia O’Keeffe aus dem Jahr 1941.

© Bequest of Georgia O'Keeffe;© 2023 Georgia O'Keeffe Museum / Artists Rights Society (ARS), New York

2 Sonne flirrt durch Werk

Flammende Berge und Täler, Blumen wie Geschlechtsorgane, Landschaften wie Traumpaletten, Tierschädel als Totem der Zivilisation. Die Motive der Georgia O‘Keeffe gehören zum festen Bildbestand des 20. Jahrhunderts, sind popkulturelle Marken.

Die amerikanische Malerin (1887-1986) hat die US-Moderne stark beeinflusst und lebte viele Jahre auf einer Ranch in New Mexico. Der Südwesten flirrt durch ihr Werk, das sich derzeit großer Aufmerksamkeit erfreut. In Basel gab es im letzten Jahr eine große Retrospektive in der Fondation Beyeler, beteiligt waren auch das Museo Nacional Thyssen-Bornemisza in Madrid und das Centre Pompidou in Paris. 

Jetzt folgt das MoMA in New York. „To See Takes Time“ heißt die Schau (9. April bis 12. August), in der die Künstlerin von einer anderen Seite zu sehen sein soll. Vor ihrem Durchbruch arbeitete sie als Kunstlehrerin und Grafikerin und fertigte auch ganze Werkserien mit Kohle, Bleistift, Aquarell und Pastell. Man bekommt jetzt einen Einblick in ihre Werkstatt und die Zusammenhänge ihrer unterschiedlichen Motive. Solche Arbeiten wurden zum ersten 1916 in der berühmten Galerie von Alfred Stieglitz in New York gezeigt.

Zu diesen Serien ist sie später immer wieder zurückgekehrt. Wie der Titel sagt, der die Künstlerin selbst zitiert: „Man braucht Zeit um zu sehen.“

Im Museum of Modern Art bekam Georgie O’Keeffe 1946 als erste Künstlerin überhaupt eine Retrospektive. Das ganz ihr gewidmete Museum in ihrer Wahlheimat Santa Fe wurde 1997 eröffnet und besitzt weltweit die größte Sammlung ihrer Werke, die immer wieder ein neues Publikum anziehen. (Rüdiger Schaper)

Georgia O’Keeffe: „To See Takes Time“, Museum of Modern Art, New York, 9. April bis 12. August 2023

3 Bilder einer Künstlerfreundschaft

Das Gemeinschaftswerk von Jean-Michel Basquiat und Andy Warhol mit dem Titel „OP OP“ entstand 1984-1985.
Das Gemeinschaftswerk von Jean-Michel Basquiat und Andy Warhol mit dem Titel „OP OP“ entstand 1984-1985.

© © The Estate of Jean-Michel Basquiat. Licensed by Artestar, New-York. © The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. / Licensed by ADAGP, Paris 2023

Man nehme Jean-Michel Basquiat und bringe ihn zusammen mit Andy Warhol – und heraus kommt eine Künstlerkollaboration, wie sie wohl kein zweites Mal zu finden ist. Die Freundschaft dieser beiden außergewöhnlichen Männer soll, so berichtete es einmal Keith Haring, von einem „einzigartigen Geist“ erfüllt gewesen sein. Dieser wird auch in den rund 160 Werken spürbar, die Basquiat und Warhol gemeinsam Mitte der 1980er-Jahre schufen.

32 Jahre Altersunterschied trennten die beiden Männer. 1983, zu Beginn ihrer Zusammenarbeit, war der deutlich ältere Andy Warhol bereits weltweit bekannt, ein regelrechter Star. Der erst 23-jährige Jean-Michel Basquiat bahnte sich da gerade erst seinen Weg heraus aus der New Yorker Graffiti Szene, hinein in die elaborierte Kunstwelt. In Warhol fand er gleichermaßen einen Freund wie auch Förderer. Die außerordentlich ergiebige Kollaboration soll ab April dieses Jahres in der Fondation Louis Vuitton in Paris gewürdigt werden.

Das von Architekt Frank Gehry gebaute Privatmuseum verspricht eine Schau so außergewöhnlich, wie die Künstler selbst: Mehr als 300 Werke und Dokumente werden zu sehen sein; darunter 80 von Basquiat und Warhol gemeinsam signierte Arbeiten sowie mehrere Porträts, die die Künstler voneinander fertigten. Daneben Werke weiterer Künstlerinnen und Künstler, die das New York der 80er prägten: Keith Haring, Jenny Holzer, Kenny Scharf, Michael Halsband, um nur einige der in dieser Ausstellung präsentierten Kunstschaffenden zu nennen.

Eine Hommage gleichermaßen an eine von tiefer Verbundenheit geprägte Freundschaft sowie an das pulsierende New York. (Ronja Merkel)

„Basquiat x Warhol. Painting 4 hands“, Fondation Louis Vuitton, Paris, 5. April bis 28. August 2023.

4 Oh Lord, lass uns leben

Valie Exports „Tapp- und Tastkino“ (1968).
Valie Exports „Tapp- und Tastkino“ (1968).

© Foto: Werner Schultz Courtesy Galerie Thaddaeus Ropac, London – Paris – Salzburg – Seoul © VALIE EXPORT / Bildrecht, Wien 2023, © Werner Schultz

In den letzten drei, vier Jahren sind zahlreiche ältere Künstlerinnen wiederentdeckt worden. Der Kunstbetrieb weiß, dass er etwas wieder gut zu machen hat, der Handel erschließt sich mit ihnen eine neue Ressource. Verdient haben sich die Künstlerinnen diese späten Würdigungen allemal. Nur eine war nie wirklich weg: die heute 82-jährige Österreicherin Valie Export, seit sie in den 1960er Jahren ihre inzwischen legendären Performances im öffentlichen Raum aufgeführt hat.

Mit Peter Weibel an der Hundeleine ging sie Gassi durch Wiens Innenstadt, ihr Tapp- und Tastkino begründete das Expanded Cinema. Beide Aktionen waren damals ein Skandal. Mehr noch das Tapp- und Tastkino, bei dem sie mit einem vor den nackten Busen geschnallten Pappkarton Passanten einlud, ihre Hände durch zwei Öffnungen zu stecken und sie zu berühren. Heute gilt das Werk als eine Ikone des feministischen Aktionismus. Dem Thema blieb sie treu, ob als Videokünstlerin oder Bildhauerin.

Im Kunsthaus Bregenz widmet sie sich dem zweiten großen Komplex ihres Schaffens: die verschiedenen Formen der Gewalt. Aus den Orgelpfeifen der Wallfahrtsbasilika Sieben Schmerzen Mariae am Pöstlingberg aus ihrer Geburtsstadt Linz baut sie eine Stalinorgel, außerdem eine „Tonskulptur“. Dazu intonieren sieben Musiker den Song „Oh Lord, don’t let them drop that atomic bomb on me“ von Charles Mingus. Der Jazzmusiker schrieb ihn Anfang der 1960er auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, als ein Atomangriff befürchtet wurde. Mit der Kriegsangst von damals trifft Valie Export heute wieder den Nerv. Eine Klassikerin eben. (Nicola Kuhn)

Valie Export: „Oh Lord, don’t let them drop that atomic bomb on me“, Kunsthaus Bregenz, 4. März bis 10. April 2023.

5 Radikal und Rossetti

Dante Gabriel Rossettis „Venus Verticordia“ (1864–1868).
Dante Gabriel Rossettis „Venus Verticordia“ (1864–1868).

© Russell-Cotes Art Gallery & Museum/Russell-Cotes Art Gallery & Museum

Freuen kann man sich in diesem Jahr wahrlich auf die erste große Ausstellung der Tate Britain in London: „The Rossettis“. Die Ausstellung widmet sich den romantischen Ideen aber auch der Radikalität der Rossetti-Generation und wagt einen Blick auf die faszinierenden Mythen, die sich um die unkonventionellen Beziehungen zwischen Dante Gabriel Rossetti, Elizabeth Siddal, Fanny Cornforth und Jane Morris ranken.

Angepasst war dieser Zirkel nicht: Im prüden Großbritannien der damaligen Zeit dachten sie alles neu: das Leben, die Liebe, den Sex, die Gesellschaft. Und sie wollten nichts weniger als eine Reformation der britischen Kunst. Es ist die erste Retrospektive von Dante Gabriel Rossetti in der Tate und die größte Ausstellung seiner ikonischen Bilder seit zwei Jahrzehnten. Zu feiern ist zudem, dass zum ersten Mal alle noch erhaltenen Gemälde und Papierarbeiten seiner Frau, Elizabeth Eleanor Siddal, zu sehen sein werden.

Sie galt als Quelle der Inspiration und als die Verkörperung des weiblichen Ideals und wurde zum Top-Model der Präraffaeliten. Aber, wie so häufig, war sie weit mehr: Eine talentierte Malerin und Dichterin, die seit 1854 sogar ein großzügiges jährliches Stipendium von dem Kunstkritiker John Ruskin erhielt, damit auch sie sich auf das Malen konzentrieren konnte. „The Rossettis“ verspricht also eine der vielen wunderbaren Ausstellungen zu werden, in der die Kunstgeschichte vor unseren Augen neu geschrieben wird.

Die Frauen an der Seite von charismatischen, gefeierten großen Künstlern erhalten hier die Würdigung, die sie verdient haben. (Katrin Sohns)

„The Rossettis“, Tate Britain, London, 6 April – 24 September 2023

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