zum Hauptinhalt
Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern ist möglich.

© Getty Images/iStockphoto

Neuköllner Gesprächsreihe zu Nahost: „Die Leute sollen miteinander ringen, anstatt nur die eigene Weltsicht zu verteidigen“

Der Dirigent Ido Arad und die Nahost-Expertin Kristin Helberg organisieren Diskussionsrunden zu Israel und Palästina. Die Veranstaltungen sind immer ausgebucht, die Gespräche bleiben sachlich. Wie machen sie das?

Stand:

Die Gesprächsreihe „Zeit zu reden“ soll Menschen wieder zusammenbringen, die sich voneinander entfremdet haben, insbesondere bei der Diskussion über Israel/Palästina. Gab es einen Schlüsselmoment in der deutschen Debatte, bei dem Sie dachten: „So geht es nicht mehr weiter“?
ARAD: Für mich war das die direkte Reaktion in Deutschland auf den 7. Oktober 2023. Gleich zu Beginn war ich auf vielen palästinasolidarischen Demonstrationen und habe erlebt, wie stark man deshalb angefeindet wird. Ich hatte das Gefühl, dass Stimmen, die sich gegen das, was in Gaza passiert, erheben, nicht gehört werden. Und pauschale Sympathiebekundungen mit dem israelischen Staat finde ich weder als Israeli noch als Jude hilfreich.

HELBERG: Für mich gab es zwei Entwicklungen. In meinem privaten Umfeld habe ich gemerkt, was ich von der einen Seite höre, ist für die andere überhaupt nicht nachvollziehbar. Und immer wieder reden alle aneinander vorbei. Aus Angst vor anderen Meinungen oder Missverständnissen spricht man lieber gar nicht mehr über das Thema – und die Gesellschaft verstummt. Außerdem habe ich als Journalistin früh versucht, Dinge zu versachlichen. Ich wollte Begriffe wie Apartheid, Genozid, Antisemitismus erklären und damit besser besprechbar machen.

Warum ist das wichtig?
HELBERG: Damit die Menschen ermutigt werden, das, was in Gaza passiert, in ihrem Umfeld zu thematisieren, und so wieder miteinander ins Gespräch kommen. Viele finden das Leid vor Ort unerträglich und wissen nicht, wohin mit ihrem Frust, ihrer Wut, ihrer Trauer – auch in der sogenannten „bürgerlichen Mitte“. Wir wollen zeigen, wie man auf menschenrechtlicher Grundlage klar Position beziehen und trotzdem sachlich diskutieren kann.

„Zeit zu reden“ im kulturellen Zentrum Spore in Neukölln

© Haig Ghokassian

Warum fällt es vielen Menschen so schwer, insbesondere im Kontext Israel/Palästina, unterschiedliche Positionen auszuhalten?
HELBERG: Jeder hat seine festen Vorstellungen, die Narrative sind über Jahrzehnte etabliert worden: Dabei ist der eine das Opfer, der andere der Täter. Das liegt auch an der Berichterstattung. Außerdem werden Gespräche zu Israel schnell emotional. Da will man private Beziehungen nicht überstrapazieren und vermeidet das Thema lieber.

Wie ging es nach den anfänglichen Überlegungen weiter? Ihre Gesprächsreihe begann im September 2024, fast ein Jahr nach dem Angriff am 7. Oktober.
ARAD: In der Spore habe ich Haig Ghokassian kennengelernt und gemeinsam haben wir überlegt, wie man diese entfremdeten Gruppen wieder zusammenbringen könnte. Und dann haben wir, ebenfalls in der Spore, Kristin getroffen, die genau den gleichen Bedarf sah.

War es schwierig, Gesprächspartner zu finden?
ARAD: Die passenden Panelisten zu finden, ist bis heute nicht einfach. Auch da zeigt sich die angesprochene Entfremdung. Viele palästinensische Menschen haben den Glauben verloren, dass sie noch irgendwas durch eine Debatte verändern können. Sie denken: Die ganze Welt sieht, was im Gazastreifen passiert, was soll da irgendein Panel noch ändern?

Was entgegnen Sie?
ARAD: Dass unsere Hoffnung auch nicht ist, alle zu erreichen. Das wird uns nicht gelingen. Vielmehr wollen wir alle Menschen mit einer liberalen Grundhaltung abholen.

HELBERG: Es geht uns um Menschen, die von sich behaupten, auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen und das Völkerrecht hochzuhalten, und die trotzdem zu unterschiedlichen Positionen kommen, also eine breite Mitte der Gesellschaft. Leute mit radikalen Positionen, die kein Interesse an Dialog und Verständigung haben, sitzen bei uns nicht auf dem Panel.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Anfangs haben Sie sich selbst finanziert, heute wird die Reihe von einer Stiftung unterstützt. Die Veranstaltungen sind immer voll. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?
ARAD: Der Erfolg hat auch mit dem richtigen Momentum fast ein Jahr nach dem Hamas-Angriff und dem Beginn der israelischen Militäroperationen in Gaza zu tun. Wir hören immer wieder von Diskutanten und aus dem Publikum, dass sie bei „Zeit zu reden“ endlich wieder „atmen“ können.

HELBERG: Das sagen wirklich viele. Auch, weil bei uns alles in Ruhe besprochen wird. Unsere Gäste werden nicht beschimpft, niemand schmeißt irgendwelche Sachen aufs Panel. Und das wiederum hat viel mit Vertrauen zu tun und damit, wie gut wir drei in unseren Bereichen vernetzt sind. Viele wissen mittlerweile, dass bei „Zeit zu reden“ eben keine blöde Propaganda verbreitet wird, sondern dass Fakten benannt werden und dass wir alles sehr kritisch, aber inhaltlich korrekt und differenziert diskutieren.

Und das unterscheidet Sie von anderen?
HELBERG: Ich glaube, ja. Wir laden Experten ein, die seit Jahren oder Jahrzehnten zu den Themen arbeiten, wir diskutieren auf hohem Niveau und mit viel Hintergrundwissen, aber trotzdem verständlich. Und wir verkörpern ein gewisses Meinungsspektrum auf der Bühne.

ARAD: Ein gutes Beispiel ist unsere Veranstaltung zu „Staatsmacht und Polizeigewalt“. Da hatten wir mit Jara Nassar eine prominente Aktivistin der Palästina-Bewegung auf dem Panel, daneben Alexander Gorski als erfahrenen Rechtsanwalt. Zudem den Polizeiforscher Tobias Singelnstein als wissenschaftliche Autorität und den stellvertretenden Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft Heiko Teggatz, der mit einem Publikum gesprochen hat, das Polizeigewalt zum Teil selbst erlebt hat.

HELBERG: Er ist gekommen, wurde nicht angegriffen und konnte reden. Das geht nur, weil wir bei uns einen sicheren und zugleich öffentlichen Raum geschaffen haben.

Ich will keinen Eklat provozieren, keine Schlagzeile produzieren, aber ich lasse die Panelisten auch nicht mit irgendwelchen Floskeln durchkommen.

Kristin Helberg

Wie schwierig ist das für Sie als Moderatorin, ein Panel mit einem so breiten Meinungsspektrum zu moderieren – und allen das Gefühl zu geben, gehört zu werden?
HELBERG: Ich bereite das ausführlich vor, spreche mit allen Teilnehmenden vorab, entwickle eine Art Moderationsleitfaden mit Fragen, den ich an die Panelisten schicke. So versuche ich, im Vorfeld Vertrauen zu schaffen, sowohl zu mir als Moderatorin als auch untereinander. Alle sollen sehen, dass es zwar um streitbare Fragen, aber am Ende um eine konstruktive Diskussion geht. Ich will keinen Eklat provozieren, keine Schlagzeile produzieren, aber ich lasse die Panelisten auch nicht mit irgendwelchen Floskeln durchkommen.

ARAD: Wir versuchen, die unterschiedlichen Meinungen in der Gesellschaft nicht nur zu zeigen, sondern die Diskussion konstruktiv weiterzubringen.

Gelingt das?
ARAD: Oft, aber nicht immer. Im Februar hatten wir eine Veranstaltung zur politischen Linken in der Krise. Da wurde leider mehr gestritten als konstruktiv diskutiert.

HELBERG: Das war frustrierend, denn wir wollen ja gerade nicht die Unversöhnlichkeit verschiedener Standpunkte zeigen, sondern aus einem kleinsten gemeinsamen Nenner heraus neue Ansätze entwickeln. Die Leute sollen miteinander ringen, anstatt nur die eigene Weltsicht zu verteidigen.

Gleiche Rechte für alle: Am Internationalen Frauentag demonstrierten einige wenige in Berlin auch für Palästinenser und Palästinenserinnen.

© IMAGO/Rouzbeh Fouladi

Haben Sie selbst in den vergangenen Monaten mal Ihre Meinung geändert?
ARAD: Ich bin vor allem bestärkt worden in meinem Glauben, dass politische Veränderungen nur über Graswurzel-Bewegungen von unten passieren können. Es ist die Zivilgesellschaft, die etwas ändern wird, nicht die politische Klasse.

HELBERG: Mir ist klar geworden, dass die Nahost-Debatte nicht mehr nur mit Israel und Palästina zu tun hat, sondern dass über dieses Thema eine autoritäre Verengung von Diskursräumen und ein Aufstieg völkisch-nationalistischer Politik stattfindet. Wohin das führen kann, sehen wir in den USA. Die Entfremdung betrifft deshalb nicht nur Menschen mit Migrationsgeschichte, sondern weite Teile der Gesellschaft. Das gefährdet das demokratische Selbstverständnis Deutschlands. Es geht also um viel mehr als Israel und Palästina.

Sie sehen auch bei anderen Themen eine Verengung der Diskurse?
HELBERG: Sicher bei den Themen Migration und Islam. Und auch die deutsche Erinnerungskultur haben wir schon kritisch diskutiert.

Sie wollen mit der Gesprächsreihe Menschen aus der eigenen politischen Blase herausholen – das Publikum erscheint allerdings meistens doch recht homogen.
HELBERG: Die meisten unserer Zuschauer sind Teil der palästinasolidarischen Szene, das stimmt. Aber wir sehen bei jeder Veranstaltung auch neue Gesichter – und diese Leute kommen wieder und bringen Freunde mit.

ARAD: Und auch die Leute aus der Solidaritätsbewegung werden bei „Zeit zu reden“ mit Meinungen konfrontiert, die sie selbst nicht teilen. Mich freut es immer, wenn Zuschauer sich ein bisschen ärgern. Wir möchten nicht einfach ein glückliches Publikum haben. Es geht vielmehr um den Austausch legitimer Meinungen, die man teilen kann oder eben nicht.

Seit einigen Wochen hat sich auch die öffentliche Debatte in Deutschland geändert, Bundeskanzler Friedrich Merz hat Israel verhältnismäßig scharf kritisiert. Ist „Zeit zu reden“ damit überflüssig geworden?
ARAD: Sicher nicht. Wir wollten von Anfang Diskursräume erweitern. Wenn jetzt viele über Genozid sprechen, gehen wir einen Schritt weiter und reden über Boykotte und Sanktionen, über Zionismus, die Einstaat-Lösung oder Widerstand.

HELBERG: Themen, vor denen andere zurückschrecken, weil sie eine radikale ideologische Debatte fürchten. Dabei lassen sich auch solche Inhalte auf der Basis von Grund- und Menschenrechten diskutieren. Außerdem geht es wie gesagt nicht nur um Israel und Palästina, Themen gibt es deshalb genug.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
false
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })