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Rette sich, wer kann. Die Definition dessen, was "normal" ist, wird enger. Immer mehr Zustände gelten als pathologisch.

© p-a

Essay: Deutschland ist ein Land der Hypochonder

Die Deutschen sind so gesund wie nie, die Lebenserwartung steigt, das Gesundheitssystem funktioniert. Und dennoch reden alle ständig über Krankheiten.

Von Anna Sauerbrey

Hier soll es um das Leiden gehen. Wie bitte, werden Sie ausrufen, aber heute ist doch Ostern, die Leidenszeit ist vorbei! Deshalb eine erlösende Botschaft gleich vorweg: Wir sind so gesund wie nie. Seit 1990 ist laut den Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Lebenserwartung der deutschen Männer von 72 auf 78 und die der deutschen Frauen von 79 auf 83 Jahre gestiegen. Dass ein Erwachsener zwischen dem 15. und dem 60. Lebensjahr stirbt, passiert in 76 von 1000 Fällen. Zum Vergleich: In Afghanistan sterben fast 400 von 1000 Erwachsenen in einem Alter, das in Deutschland längst das Prädikat „vor der Zeit“ trägt. Im europäischen Durchschnitt sind es 146. Unsere Gesundheit ist uns auch etwas wert. Wir geben mehr als zehn Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes für das Gesundheitssystem aus, und im weltweiten Vergleich betrachtet, kann man nur sagen: Es funktioniert gut. Was die Gesundheit angeht, gehört Deutschland zur Spitzengruppe. Wir haben das Risiko zu leiden minimiert.

Dem subjektiven Empfinden allerdings entspricht das nicht. Fühlt man der Gesellschaft mit der Fernbedienung den Puls, möchte man, Verzeihung, drei Kreuze schlagen vor lauter Siechenden. Alle reden und schreiben offenbar nur noch über das Kranksein. Den Anfang machte vor zwei Jahren Miriam Meckel, die ein Buch über eine Krankheit namens Burn-out geschrieben hat, die damals noch niemand kannte. Seitdem sind ihr viele bekannte und weniger bekannte Menschen mit Krankengeschichten in die Öffentlichkeit gefolgt. Christopher Lauer, Berliner Pirat, bekannte sich zur Aufmerksamkeitsdefizitstörung ADHS, Rudi Assauer hat ein Buch über seine Alzheimer-Erkrankung geschrieben. Über seinen Schlaganfall sprach Wolfgang Niedecken mit dem „Zeit“-Magazin, mit dem Tagesspiegel und mit Günther Jauch. Unter anderen. Bei Jauch saß er zusammen mit dem schleswig-holsteinischen FDP-Spitzenkandidaten Wolfgang Kubicki. Kubicki hatte kurz zuvor in einem Dokumentarfilm über die Abgründe des Politikerdaseins erzählt, dass er in einer Phase, in der er unter besonderem Druck stand, daran gedacht habe, „in die Ostsee“ zu gehen.

Es ist ein seltsamer Widerspruch, dass wir uns in dem Moment, in dem wir, im historischen und globalen Weitwinkel betrachtet, am gesündesten sind, so sehr für Krankheiten interessieren. Sicher, viele Menschen sind von Alzheimer, Depressionen und Schlaganfällen persönlich betroffen. Etwas Hypochondrisches hat das gesteigerte Interesse am Siechtum anderer dennoch. Wir sind ein wenig wie Molières eingebildeter Kranker Argan. Der sagt einmal zu seinem Bruder Béralde: „Seht Ihr, all diese Krankheiten, die ich nicht kenne, liegen mir schwer auf der Seele.“ Er meint: All die Krankheiten, von denen ich noch nicht weiß, dass ich sie habe.

Warum Merkel und Obama immer gesund sind

Zudem ist die neue Transparenz im Umgang mit der Krankheit trügerisch. Nach dem Suizid des Fußballspielers Robert Enke hat sich die Gesellschaft mehr Offenheit im Umgang gerade mit psychischen Erkrankungen auferlegt. Weiterhin aber reden vor allem diejenigen, deren Position es ihnen erlaubt. Beseitigt ist das Stigma nicht. Unter den Beichtenden finden sich keine Vorstandsvorsitzenden, keine aktiven Sportler, nur wenige Soldaten. Unter den Politikern, die über ihre Erkrankungen sprechen, fehlt die allererste Garde. Angela Merkel ist offenbar immer gesund. Barack Obama muss seinem Volk sogar regelmäßig mit einem öffentlichen Gesundheitscheck seine Regierungsfähigkeit nachweisen. Der Herrscher riskiert seine Macht, wenn er schwächelt. Deshalb tritt er regelmäßig zur Audienz auf den Balkon. Aufrecht und mit strahlendem Teint.

Es ist nicht nur die persönliche Betroffenheit, die uns den Krankengeschichten so gebannt lauschen lässt. Vor dem Fernseher, dem Aufenthaltsraum der Gesellschaft, sitzen die Deutschen im Stuhlkreis einer Selbsthilfegruppe. Sie geben den Redekiesel herum und sprechen sich die Verunsicherung von der Seele. Verursacht wird die Verunsicherung aber nicht durch die Krankheiten selbst, so beunruhigend sie tatsächlich sein mögen. Die Verunsicherung entsteht, weil wir dabei sind, unseren Umgang mit dem Leiden grundsätzlich neu zu ordnen. Geredet wird über Krankheiten vor allem da, wo sie konform sind mit dem Wertesystem der Leistungsgesellschaft – oder wo jemand das dringende Bedürfnis verspürt, sich gegen dieses System zu verteidigen.

Anna Sauerbrey ist promovierte Historikerin und Mitarbeiterin der Meinungsredaktion des Tagesspiegels.
Anna Sauerbrey ist promovierte Historikerin und Mitarbeiterin der Meinungsredaktion des Tagesspiegels.

© Kai-Uwe Heinrich

Nehmen wir Ursula von der Leyen. Sie saß bei Jauch neben Wolfgang Kubicki und Wolfgang Niedecken. Auch sie beichtete Gefühle der Überforderung. Jedenfalls fast. Sie sprach über „rote Linien“, denen sie nahe gekommen sei (das Wort „überschreiten“ fiel nicht). Als junge Ärztin habe sie so viel gearbeitet, dass sie schließlich selbst mit einer Rippenfellentzündung zur Patientin wurde. Ein Arzt (nicht: ein Psychiater) habe ihr schließlich geholfen, die übersteigerten Ansprüche, die sie an sich selbst stellte, abzumildern. Heute ist sie einfach besser organisiert (manches delegiert sie), deshalb geht es ihr besser.

Die vermeintliche Beichte war keineswegs das Eingeständnis von Schwäche. Das Bild der eisernen Ministerin bekam keine einzige sichtbare Macke. Ursula von der Leyen ergänzte lediglich jenen Tupfer Menschlichkeit, der ihren Marktwert erhöht. Es ging gar nicht darum, wie die junge Ärztin oder die ausgewachsene Ministerin sich fühlt. Sondern darum, ob und wie sie funktioniert. Ursula von der Leyen wendet das neue Bewertungssystem von „krank“ und „gesund“ an. Ausschlaggebend ist nicht unser Wohlbefinden, sondern unsere Arbeitsfähigkeit. Krankheiten sind Herausforderungen, denen man zu begegnen hat. Das Burn-out-Syndrom ist die ehrenvolle Kriegsverletzung der Angestelltengesellschaft.

Leistung und Arbeit: Ist also mal wieder der hässliche Turbokapitalismus schuld am neuen Narrativ von Krankheit und Gesundheit? Zumindest nicht allein. Der Mensch hat das grundsätzliche Bedürfnis, den Wechselfällen des Lebens Bedeutung zu verleihen. Doch traditionelle sinnstiftende Interpretationen von Krankheit fallen aus.

Christus erlöst mit seinem Leiden die Menschheit

Das Christentum sah den Umgang mit Leiden und Tod über Jahrhunderte hinweg vor der Folie der Passion. Jesus Christus wurde gegeißelt, man setzte ihm die Dornenkrone auf, verspottete ihn mit einem falschen Königsgewand, schlug ihn und schlug ihn schließlich ans Kreuz, doch die sinnlose und willkürliche Grausamkeit des Leidens wurde religiös überschrieben durch das Motiv der Erlösung. Wer den Himmel sehen will, muss sterben. Christus löst mit seinem Leiden die gesamte Menschheit aus.

Ertragen hat er die Passion, so will es die Bibel, mit Fassung. Von seinem Aufschrei („Mein Gott, warum hast du mich verlassen“), der sich als Verzweiflung und Anklage interpretieren ließe, berichten nur Matthäus und Markus. Johannes hingegen bemerkt: „Er trug sein Kreuz.“ Über Jahrhunderte hinweg blieb die Erzählung vom Leiden als göttliche Prüfung – und vom Nicht-Leiden als Zeichen von göttlichem Wohlwollen – ein Leitbild. Der duldsame oder schmerzfreie Tod durfte in der Vormoderne in kaum einer Herrscherbiografie als Beleg eines gottgefälligen Lebens fehlen.

Neben dem Ausfallen sinnstiftender Interpretationen verschiebt sich aber auch faktisch die Art und Weise, wie wir krank sind. Die Weltgesundheitsorganisation listet die gravierendsten globalen Gesundheitsprobleme auf: Kleinkindsterblichkeit, Unterernährung, Tuberkulose und Malaria, mangelnde Toiletten und verschmutztes Trinkwasser, Kriege, gefährliche Arbeitsbedingungen und chaotische Straßenverhältnisse. Noch immer haben viele Menschen kaum Zugang zu medizinischer Versorgung. Fast alle dieser Probleme wirken hierzulande beinahe ebenso mittelalterlich wie das Sich-Versenken in die Passion Christi. Die Geißeln der Menschheit spielen, global betrachtet, bei uns überhaupt keine Rolle mehr.

Doch auch um die westlichen Industrienationen sorgt sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO), denn bei uns steigt die Zahl der Zivilisationskrankheiten. Dazu gehören Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und einige Krebserkrankungen. Die Ursachen sind ungesunde Über-Ernährung, wenig Bewegung, Tabak und Alkohol. Etwa ein Fünftel der deutschen Erwachsenen ist laut WHO-Bericht übergewichtig. Infarkte, Gefäßkrankheiten und andere Herz-Kreislauf-Erkrankungen waren laut statistischem Bundesamt die häufigste Todesursache im Jahr 2010. Auch die Zahl psychischer Erkrankungen nimmt zu, im vorigen Jahr ist sie so stark gestiegen wie noch nie. Sie machten 2010 laut dem Gesundheitsreport der Deutschen Angestellten Krankenkasse ein Achtel des gesamten Krankenstandes aus.

Psychische Erkrankungen sind schwer zu definieren

Man könnte sagen, dass insgesamt die schicksalhaften, unabwendbaren Krankheiten seltener werden, die Krankheiten hingegen, auf die wir tatsächlich oder vermeintlich einen Einfluss haben, zunehmen. Wer kurz vor dem Infarkt steht, muss eben mehr Sport treiben und weniger Fritten essen. Wer sich depressiv fühlt, muss einfach mal zum Yoga oder eine bessere „Work-Life-Balance“ suchen. Der medizinische Fortschritt untermauert diese Vorstellung. Immer neue Methoden und Medikamente verheißen die totale Kontrolle über den eigenen Körper. Alles ist machbar, jeder selbstverantwortlich. Auch ein Prinzip der Leistungsgesellschaft.

In der Folge wird die Definition des „Normalen“ enger. Zurzeit tobt, wie der Tagesspiegel berichtet hat, ein Streit in der American Psychiatric Association, der Vereinigung der amerikanischen Psychiater. Dabei geht es um die Neufassung eines Kataloghandbuchs zur Bestimmung seelischer Erkrankungen. Vorgesehen ist, die Trauer nach dem Tod eines Angehörigen schon nach zwei Wochen als bedenkliches Anzeichen einer depressiven Störung zu definieren. Wer also 14 Tage nach dem Tod seines Lebenspartners immer noch schlecht schläft und keinen Appetit hat, gilt als beinahe krank. Die Zeitspanne wird bereits zum dritten Mal verkürzt. In der Vorgängerversion gab das Handbuch den Trauernden noch zwei Monate, in der vorvergangenen Ausgabe sogar noch ein ganzes Jahr.

Gerade bei psychischen Krankheiten ist es ausgesprochen schwierig, zu definieren, welcher Zustand „krank“ und welcher „gesund“ ist. Wie schmal der Grat zwischen dem Erkennen eines neuen gesellschaftlichen Problems und der Pathologisierung normaler Zustände ist, zeigen sowohl die Debatte um das Burn-out-Syndrom als auch um die Aufmerksamkeitsdefizitstörung. Der Pirat Christopher Lauer berichtet in seiner ADHS-Beichte: „Leben mit ADHS ist mein Normal“. Er nennt ADHS einen „Wahrnehmungszustand“. Die Diagnose habe ihm geholfen, rückwirkend einiges zu erklären und sich selbst „einzuordnen“. Dass er Medikamente nimmt, sieht er mit einem gewissen Trotz aber lediglich als ein „Zugeständnis“ an eine Gesellschaft, in der die meisten Leute kein ADHS haben. Gleichzeitig mehren sich die Anzeichen, dass die enorme Häufigkeit der Diagnose ADHS auf eine hohe Anzahl von Fehldiagnosen und auf falsche Erwartungen bei Eltern und Ärzten zurückzuführen ist. Gerade fanden Wissenschaftler der Universitäten Bochum und Basel in einer Studie in Deutschland und der Schweiz Belege für die Überdiagnose des Syndroms.

Wenn der Rahmen des „Normalen“ sich verengt und die Vorstellung der Eigenverantwortung für das geistige und körperliche Wohlbefinden zunimmt, wenn gleichzeitig der Druck steigt, als Arbeitskraft zu funktionieren, erscheint schnell das Gespenst der Entsolidarisierung. Eine Interpretation von Krankheit, die sich an der Leistung orientiert, scheint nicht vereinbar mit einem Solidarsystem, das teuer ist und bald immer mehr Ältere und Kranke zu versorgen hat. Glücklicherweise ist davon im Moment noch wenig zu spüren. Keine Partei in Deutschland stellt das System momentan grundsätzlich infrage. Den Druck machen wir uns selbst – und reden eifrig darüber.

So landet man schließlich doch wieder beim Osterthema. Die Vorstellung, durch das Leiden erlöst zu werden, es deshalb erdulden zu müssen, ist der modernen Gesellschaft fremd geworden. Als Gemeinschaft aber müssen wir das Kranksein als Normalfall annehmen.

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