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Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Veranstaltung im Rahmen der Leipziger Buchmesse auf einer Bühne im Schauspiel Leipzig.

© picture alliance/dpa/Hendrik Schmidt

„Besser ist, man schreit die Wand in seinem Büro an”: Merkel hält Scholz-Rede für „kein Paradebeispiel für Würde“

Altkanzlerin Angela Merkel findet in einem Interview klare Worte für die Wutrede von Kanzler Olaf Scholz. Zudem verteidigt sie ihre Migrationspolitik und ihren Einsatz für Nord Stream 2.

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Die Wutrede von Olaf Scholz anlässlich des Kollapses seiner Regierung hält Altkanzlerin Angela Merkel für „kein Paradebeispiel für Würde”. „Der Bundeskanzler führt das Verfassungsorgan Bundesregierung an. Sein Amt hat eine Würde, und die sollte einen stets leiten”, sagte sie in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel”.

„Harte Bandagen“ habe auch sie in ihrer Amtszeit zu spüren bekommen. Sie halte es auch für „unmenschlich, darauf immer nur nüchtern und ausgewogen zu reagieren“. Trotzdem müssten Bundeskanzler solche Krisen mit sich selbst ausmachen.

Merkel: „Musste als Kanzlerin Wut hinter mir lassen“

„Man verspürt eine Menge Emotionen, aber besser ist, man schreit die Wand in seinem Büro an als die deutsche Öffentlichkeit”, sagte Merkel. „Ich konnte mich als Kanzlerin auch nicht tagelang in meinem Gemütszustand aufhalten, sondern musste die Wut hinter mir lassen und schauen, dass ich vorankomme.”

Man kann doch vorher nie sagen, wie Koalitionen funktionieren.

Altkanzlerin Angela Merkel

Grundsätzlich nachvollziehen könne sie das Lob seiner Anhänger für den energischen Auftritt: „Klar, vor allem die eigenen Truppen finden es immer toll, wenn man aus sich rausgeht und klare Kante zeigt. Aber so ein Effekt hält meist nicht lange, und das beobachte ich auch hier.“

Nach Scholz’ Auftritt beobachtete Merkel „auch ein bisschen Unwohlsein im Publikum. Manche dachten: Wenn unser Bundeskanzler so außer Rand und Band ist – ogottogott – wie schlecht steht es dann um unser Land?”.

Hinsichtlich der FDP sagte sie, die Partei habe sie „nie als einfachen Koalitionspartner erlebt“. „Aber sie existiert, und Politik beginnt eben mit dem Betrachten der Realität“, so Merkel.

Sie hält es nicht für ausgeschlossen, dass ein Jamaikabündnis, wie sie es 2017 mit Grünen und Liberalen schmieden wollte, funktioniert hätte: „Man kann doch vorher nie sagen, wie Koalitionen funktionieren. Jamaika wäre sehr viel Arbeit gewesen, und ich hätte viel mehr Zeit für die verschiedenen Partner aufwenden müssen. Aber die Frage hat sich ja nicht gestellt, weil Herr Lindner nicht wollte.“

Merkel verteidigt Vorgehen während Flüchtlingskrise

In dem Interview verteidigt sie außerdem das Offenhalten der deutschen Grenzen während der Flüchtlingskrise von 2015. „Ich hatte damals das Gefühl, ich hätte sonst die gesamte Glaubwürdigkeit der Sonntagsreden über unsere tollen Werte in Europa und die Menschenwürde preisgegeben“, sagte sie. „Die Vorstellung, zum Beispiel Wasserwerfer an der deutschen Grenze aufzustellen, war für mich furchtbar und wäre sowieso keine Lösung gewesen.“

Ohne die Offenheit und Veränderungsbereitschaft der aufnehmenden Gesellschaft kann es keine Integration geben.

Angela Merkel

Asylbewerber an der Grenze zurückzuweisen, fordert aktuell die CDU. Dazu sagte Merkel: „Ich finde das nach wie vor nicht richtig.“ Es sei „eine Illusion anzunehmen, alles wird gut, wenn wir Flüchtlinge an der deutschen Grenze zurückweisen“. Sollte es der EU nicht gelingen, das Problem der illegalen Migration zu lösen, fürchtet sie „ein Stück Rückabwicklung der europäischen Integration, mit Folgen, die man nicht abschätzen kann“.

Ausdrücklich bejahte Merkel eine „Bringschuld“ der Deutschen gegenüber Zuwanderern: „Ohne die Offenheit und Veränderungsbereitschaft der aufnehmenden Gesellschaft kann es keine Integration geben. Voraussetzung ist ein Mindestmaß an Wissen über andere Kulturen, ich muss mich schon dafür interessieren.“

Merkel verteidigt Einsatz für Nord Stream 2

Sie beteuerte aber auch, sie habe „die Ängste der Menschen vor zu viel Zuwanderung und islamistischem Terrorismus immer sehr ernst genommen: Wenn man auf ein Volksfest geht und fürchtet, hinter mir zieht gleich einer ein Messer, dann ist das sehr verunsichernd, auch wenn es diese Gefahr in dem Moment vielleicht gar nicht gibt.“

Zudem verteidigte Merkel in dem Gespräch ihre Entscheidung, trotz der russischen Krim-Annexion 2014 das Pipelineprojekt Nord Stream 2 nicht gestoppt zu haben: „Ich habe es als eine meiner Aufgaben gesehen, für die deutsche Wirtschaft billiges Gas zu bekommen“, sagte sie. „Wir sehen jetzt, welche Folgen teure Energiepreise für unser Land haben.“

Sie verwies auch auf die damalige politische Lage: „Für den Abbruch des Gashandels mit Russland hätte ich keine politischen Mehrheiten gehabt und schon gar keine Zustimmung in der Wirtschaft.“ Dass sie damit zur Finanzierung von Russlands Angriff auf die Ukraine beigetragen habe, weist Merkel zurück: „Russland hat den Krieg begonnen, ohne dass jemals Gas durch Nord Stream 2 geflossen ist. Heute füllen andere Länder Putins Kriegskasse. So wäre es auch damals gekommen, wenn wir alle wirtschaftlichen Verbindungen abgebrochen hätten.“

Die Pipeline habe sie auch „politisch für sinnvoll“ gehalten, stellte Merkel klar: „Wie konnte man in der neuen Ordnung nach dem Kalten Krieg mit einem wie Putin, den manche Historiker als Revisionisten bezeichnen, Verbindungen halten? Durch den Versuch, ihn am Wohlstand teilhaben zu lassen.“

Obwohl dieser Versuch scheiterte, bezeichnete Merkel die Pipeline ausdrücklich nicht als Fehler: „Weil ich all meine Kraft eingesetzt habe, um die Situation zu verhindern, zu der es jetzt gekommen ist.“ Merkel verweist auf die Verhandlungen von Minsk 2015, die seinerzeit zu einem brüchigen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine führten: „Damals schien es mir nicht sinnvoll, zugleich zu sagen, ökonomisch kappen wir alle Verbindungen, die auch Putin wichtig sind.“

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