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Das war der „High Noon“-Expertentalk: „Friedrich Merz ist nicht die letzte Patrone der Demokratie“
Merz scheiterte im ersten Wahlgang als Bundeskanzler. Im Tagesspiegel-Expertentalk ging es unter anderem um die Zukunft von Schwarz-Rot und um eine mögliche Spaltung der CDU.
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Im ersten Wahlgang ist Friedrich Merz als neuer Bundeskanzler gescheitert, erst im zweiten Anlauf am späten Nachmittag klappte es dann. Eigentlich sollte der CDU-Vorsitzende bereits am Dienstagvormittag gewählt werden und den Start einer neuen schwarz-roten Bundesregierung einleiten. Stattdessen schrieb er als erster, nicht gewählter designierter Kanzler Geschichte.
Im Tagesspiegel „High-Noon“-Experten Talk diskutierten nach dem ersten, gescheiterten Wahlgang am Mittag Tagesspiegel-Chefredakteur Christian Tretbar, Soziologieprofessorin Christiane Bender, Politikwissenschaftler Martin Florack und Robert Vehrkamp, Senior Advisor zur Zukunft der Demokratie bei der Bertelsmann-Stiftung, was der gescheiterte Wahlgang für die neue Bundesregierung bedeutet. Anja Wehler-Schöck, Mitglied der Tagesspiegel-Chefredaktion, leitet die Runde als Moderatorin.
Während Christian Tretbar die Abstimmung der Abgeordneten als „unverantwortlich“ in einer solch historischen Situation bezeichnete, plädierte Robert Vehrkamp für Gelassenheit. „Ich würde uns alle dazu aufrufen, die Kirche im Dorf zu lassen“, sagte Vehrkamp.
Die Abstimmung sei eine „persönlich gemeinte Quittung“ für den Kanzlerkandidaten gewesen, die allerdings noch lange kein endgültiges Urteil über die Zukunft dieser Regierung sei. Trotzdem müsse sich Merz diese Abstimmung zu Herzen nehmen, die den Vertrauensverlust innerhalb seiner Partei und Koalitionspartner zeige.
Unsere Wirtschaft hat nicht die Zeit, ein weiteres halbes Jahr zu warten
Christiane Bender, Soziologieprofessorin
Christiane Bender hielt die Abstimmung für weitaus dramatischer, wenn auch für ein demokratisch legitimes Szenario. „Es lässt auf eine ganz große Problematik unserer Gesellschaft und politischen Kultur schließen: Konsens ist schwierig geworden“, sagte die Soziologin. In dem 144-seitigen Koalitionsvertrag sei für ‚jede Richtung‘ etwas dabei, er müsse die Grundlage dafür werden, dass die neue Regierung in Deutschland handlungsfähig werde.
Ein Teil der rechten Wähler stimme vor allem für rechts, weil sie die Kräfte der Mitte für nicht regierungsfähig hielten. Der vorliegende Koalitionsvertrag und Merz als Kanzler seien eine Chance zu zeigen, dass sie es doch sind. „Unsere Wirtschaft hat nicht die Zeit, ein weiteres halbes Jahr zu warten“, sagt die Soziologin.
Auch Martin Florack ordnete den Fehlstart in den Rahmen eines normalen demokratischen Prozesses ein, auch wenn er die Dramatik über die Abstimmung für überhöht hielt. „Wir haben keine rechtsfreie Lage“, erklärte der Politikwissenschaftler. Es gebe einen genauen Ablauf mit einem zweiten und einem dritten Wahlgang.
Die Verantwortung für den Fehlstart sah Florack in erster Linie bei Merz und seiner Führungstaktik, vor allem im Umgang mit der AfD. Er habe mit einer gemeinsamen Abstimmung Mitglieder seiner Partei und Parteienfamilie „in die Solidarität gezwungen“. Gemeint ist die gescheiterte gemeinsame Abstimmung zur Durchsetzung des sogenannten „Zustrombegrenzungsgesetzes“ Ende Januar.
Der Druck auf den neuen Kanzler ist gewachsen
Vehrkamp, der unter anderem die Bertelsmann Bilanz zur Ampelkoalition publizierte, hielt die Abstimmung nur dramatisch für den da noch designierten Kanzler. „Friedrich Merz ist nicht die letzte Patrone der deutschen Demokratie“, erklärte er. „Dann wird es eben Hendrik Wüst oder Daniel Günther.“ Er wolle die Situation zwar nicht verharmlosen, man müsse aber Vertrauen haben und dürfe die Widerstandsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie nicht unterschätzen – die Alternative zu Merz sei nicht Chaos, sondern eben ein anderer CDU-Kandidat. Anders sahen das Christiane Bender und Christian Tretbar.
Bender etwa hält Friedrich Merz für ein Ausnahmetalent – es gebe nicht viele Politiker in Deutschland, die so regional verwurzelt und trotzdem international fähig seien zu kommunizieren. „Merz hätte Vance schrumpfen lassen, das kann er. Ich wüsste nicht, wer das sonst so hinkriegt.“
Tagesspiegel-Chefredakteur Christian Tretbar hält es angesichts des gescheiterten ersten Wahlgangs für problematisch für Merz, dass er immer wieder auf eine Mehrheit angewiesen sein werde, wenn er Gesetze durchbringen wolle, sagte er im Talk. „Das Misstrauen ist enorm.“ Und auch der Druck auf einen neuen Kanzler sei mit diesem Misstrauen noch mehr gewachsen.
Auch um die Rolle von Jens Spahn ging es im Gespräch – der selbst in der eigenen Partei von vielen als „ambitioniert und illoyal“ gesehen wird, wie Wehler-Schöck in ihrer Frage an Florack formuliert. „Er müsste den Laden eigentlich zusammenhalten“, erklärte er. Damit habe er gebrochen. Er sei Träger multipler politischer Persönlichkeiten, zuletzt habe er durch sein Verbünden mit Armin Laschet und einem innerparteilichen Streit um den Kurs der CDU gegengehalten. Jetzt sei es aber an ihm, die Fraktion zu versammeln.
Ein Grundsatzproblem sieht er außerdem in der Frage, was die Situation für die AfD bedeute: „Sie brauchen seit Jahren nicht mitregieren, weil wir über jedes Stöckchen springen.“ Es sei eine inhärente Schwäche des Parteiensystems, die es zu überwinden gelte: In solchen Lagen zu zeigen, dass man als Regierung mehrheitsfähig ist. Merz habe das bisher nicht beweisen können.
Zum Schluss der Diskussion polarisierte Bender mit der Aussage, Bürger und Bürgerinnen würden auf Lösungen warten, unter anderem In Bezug auf einen „stärkeren Zustrom“ in der Migration, der zu erwarten sei - es sei vor allem für Menschen regional ein ernst zu nehmendes Problem. Vehrkamp lenkte scharf ein: „Ich habe das Gefühl, mit dieser Rhetorik schaffen wir ein Problem, das wir später beklagen.“ Es gebe keine einfachen Lösungen. „Ob die Regierung vier Wochen später gebildet wird, entscheidet nicht darüber, ob wir mit Migration fertig werden.“
Ähnlich wie Bender sah Tagesspiegel-Chefredakteur Tretbar die Situation. Das System hänge nun seit anderthalb Jahren in einer Handlungsunfähigkeit, es gehe jetzt darum, die Lösungsansätze aus dem Koalitionsvertrag zu realisieren. „Wir haben unmittelbar vor der Haustür einen Krieg, ein großes transatlantisches Bündnis geht kaputt“, erklärte er. Auch mit „jeder Messerattacke“ schwinde das Vertrauen.
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