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Einschränkungen Geimpfter und Geneser sollten entfallen: Die Hoffnung auf mehr Freiheit lässt auf sich warten
Vor zwei Wochen kündigte die Koalition an, weitere Grundrechtsbeschränkungen aufzuheben. Doch es tut sich nichts. FDP, Linke und Grüne fordern zum Handeln auf.
Stand:
Rechtstaatliche Grundsätze, sagte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) am 6. Mai im Bundestag, müssten nicht nur in Normalzeiten gelten, sondern auch in Krisenzeiten. Grundrechtseinschränkungen müssten wegfallen, wenn die Begründung dafür entfalle.
Daher stimmte der Bundestag vor gut zwei Wochen zu, Einschränkungen für Geimpfte entfallen zu lassen – allerdings nur beim Kontaktverbot und bei der Ausgangssperre. Und die entsprechende Verordnung auf der Grundlage des „Notbremsegesetzes“ des Bundes kam auch nur, weil die Koalition sonst damit hätte rechnen müssen, dass das Bundesverfassungsgericht intervenieren würde.
Unions-Fraktionsvize Thorsten Frei sprach in der Debatte vor gut zwei Wochen daher ausdrücklich von einem „ersten Schritt“. Doch werde es „weitere Schritte auf diesem Weg geben müssen, und es wird sie auch geben“. Man werde sich „schon sehr bald“ mit der Frage zu beschäftigen haben. Und der SPD-Rechtspolitiker Johannes Fechner sagte damals, dass „der nächste Schritt schon sein wird, Handel und Gastronomie und auch den Tourismus zu öffnen“.
Doch gehandelt hat die Koalition nicht. Es wird den zweiten Schritt wohl nicht geben. Das Bundesjustizministerium teilte nur allgemein mit: „Abhängig von der Entwicklung der Infektionslage, der Impfquote und den weiteren wissenschaftlichen Erkenntnissen werden perspektivisch weitere Änderungen für Geimpfte, Genesene und Getestete hinsichtlich der Einbeziehung in die Schutzmaßnahmen vorzunehmen sein.“ Ziel sei die Aufhebung aller Schutzmaßnahmen, sobald es die epidemiologische Lage zulasse.
Starre Notbremse
Die Verordnung gilt, wie auch die „Notbremse“, bis Ende Juni – und nur in den Land- und Stadtkreisen, wo die Sieben-Tage-Inzidenz dauerhaft über 100 liegt. Als das Gesetz beschlossen wurde, rechnete die Regierung damit, dass solche Werte bis in den Juni hinein häufiger sein würden. Geht das Infektionsgeschehen in den Kreisen zurück und fällt dauerhaft unter 100, treten die Landesregelungen in Kraft. Die „Notbremse“ hat dann ausgedient - wirkt aber automatisch wieder, wenn die Inzidenz über 100 steigt.
Offenkundig sieht man in der Koalition den zweiten Schritt bei der Verordnung nun nicht mehr als notwendig an – immerhin sinken die Infektionszahlen zügiger, als man wohl vor einigen Wochen noch angenommen hat. Einschränkungen für Geimpfte dürfen auch die Länder aufheben, bei Werten unter 100. Aber bisher ist das nicht der Fall. Eine ergänzte Bundesverordnung, in der weitere Einschränkungen aufgehoben worden wären, etwa beim Beherbergungsverbot, beim Sport, in der Gastronomie, hätte da möglicherweise Signalcharakter gehabt. Zeitlich ist eine ergänzte Verordnung aber kaum noch realistisch. Da Bundestag und Bundesrat zustimmen müssen, würde das Verfahren bis in die zweite Junihälfte dauern.
Kubicki erwartet "zügige Aussage"
In der Opposition wird das mit Verärgerung registriert und als Beispiel dafür genommen, wie wenig planvoll und abwägend die Politik der Bundesregierung hier sei. Nicht zuletzt die FDP hatte darauf gedrungen, deutlich mehr Einschränkungen schon im ersten Schritt aufzuheben. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki erwartet nun „eine zügige Aussage der Bundesregierung", wann der Grad der Immunisierung erreicht ist, der die Legitimation für die erheblichen Grundrechtseingriffe – auch bei Nicht-Geimpften – entfallen lasse. Die Ausnahme-Verordnung der Regierung sei nur ein „eilig zusammengeschusterter Notanker aus Angst vor den Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht“ gewesen. „Sie müsste zwar deutlich ausgeweitet werden, wird aber vor dem Hintergrund der unseligen "Bundesnotbremse" überhaupt nicht das verfassungsrechtlich gebotene Maß an Einschränkungsrücknahmen gewährleisten können“, sagte Kubicki, im Zivilberuf Rechtsanwalt, dem Tagesspiegel.
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Kubicki verweist auf die „Besonderen Regeln für Geimpfte“ des Ethikrates vom Februar: In dem Maß, in dem die Impfkampagne glücke, entfalle sukzessive die rechtliche und ethische Rechtfertigung der staatlichen Freiheitsbeschränkungen. „Sie müssen insoweit für alle Bürger - und nicht nur für Genesene und Geimpfte - zurückgenommen werden“, fordert der FDP-Politiker. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) deutete am Wochenende an, dass eine Inzidenz von unter 20 zu weiteren Lockerungen führen könne.
Empfehlung des Ethikrates
Der Ethikrat habe auch festgehalten, dass der Maßstab für diese Rücknahme der Einschränkungen nicht die Infektionszahlen sein könnten, sondern primär die Zahl der schweren Krankheitsverläufe. „Dank Angela Merkels Notbremse haben wir jetzt aber einen nur an Infektionszahlen anknüpfenden Lockdown-Mechanismus, der all das missachtet. Wenn die Bundesrepublik schon einen gesetzlich verankerten Ethikrat unterhält, wäre es wünschenswert, die Bundesregierung würde sich erbarmen, sich mit diesen Ausführungen auch auseinanderzusetzen“, sagte Kubicki. Und er verweist darauf, dass die restriktive Haltung der Regierung kurzfristig durchaus Folgen haben könnte: „Wenn eine Region wegen Überschreiten der Inzidenzmarke im Juni noch einmal in den Lockdown müsste, obwohl eine weitgehende Durchimpfung uns und unser Gesundheitssystem weitgehend schützt, wäre das eine Katastrophe für die betroffenen Unternehmen, insbesondere im Tourismus, denen nicht noch die Sommereinnahmen wegbrechen dürfen."
Zwar sieht es angesichts der Entwicklung derzeit nicht mehr danach aus, aber völlig auszuschließen ist nicht, dass in einzelnen Kreisen durch besondere Ereignisse nochmals Inzidenzen über 100 erreicht werden. Dann griffe zum Beispiel automatisch das Beherbergungsverbot, alle dort Urlaubenden müssten abreisen. Eine Ausnahme davon für Geimpfte und Genesene mit Nachweis würde das verhindern - aber von einer Erweiterung der Verordnung ist nicht die Rede.
"Fast autoritäre Grundhaltung"
Der Linken-Rechtspolitiker Friedrich Straetmanns sagt dem Tagesspiegel: „Dass die Verordnung nun nicht um weitere Ausnahmen ergänzt wird, ist falsch.“ Die Regierung habe eine umfassende Abwägung aller Gesichtspunkte versäumt und zeige damit erneut schlechtes Krisenmanagement. „Es wird mit einer fast autoritären Grundhaltung verordnet, statt darauf zu schauen, ob das Gebotene und Verbotene auch verhältnismäßig ist", betonte Straetmanns, der im Zivilberuf Richter ist.
Sehr kritisch kommentiert das Verhalten der Koalition auch die Grünen-Rechtspolitikerin Manuela Rottmann. „Die Bundesregierung handelt auch bei der Ausnahmen-Verordnung konfus. Einen klaren bundesweiten Ausstiegsplan gibt es nicht, und die Länder gehen nun dazu über, ihre eigenen Wege zu suchen.“ Die rechtliche Lage sei jedoch glasklar: „Man kann Geimpfte nicht daran hindern, sich zu treffen, und auch andere Einschränkungen, die jetzt noch immer für sie gelten, sind nicht zu rechtfertigen.“ Die gleiche Teilhabe für Nicht-Geimpfte sollte immer durch häufiges Testen gesichert werden. Aber auch hier gebe es nun unterschiedliche Ansätze in den Ländern.
"Prinzip Hoffnung"
Rottmann sagte dem Tagesspiegel: „Ich kann der Bundesregierung nur raten, die Verordnung zügig anzupassen und zu erweitern. Denn sonst entscheiden Gerichte. Das war von Beginn an klar.“ Die „Bundesnotbremse“ wirke sehr starr und unabhängig davon, ob das Infektionsgeschehen vor Ort diffus oder eingrenzbar sei. „Offenbar ist man in der Regierung nach gut einem Jahr Pandemiegeschehen immer noch nicht klüger als am Anfang. Es ist doch längst die Frage, ob man sich noch allein an einer fixen Sieben-Tage-Inzidenz orientieren soll oder ob man nicht andere Kriterien wie die Belegung der Intensivstationen heranziehen muss. Aber in der Regierung herrscht wieder das Prinzip Hoffnung - man glaubt, irgendwie bis Ende Juni auch so durchzukommen."
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