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„Die Probleme sind immens groß“: Ist der Bevölkerungsschutz überhaupt noch zu retten?
Aus dem neuen Finanztopf für Verteidigung soll auch mehr Geld in den Zivilschutz fließen. Das ist bitter nötig, denn die Lücken sind immens. Aber reicht das Geld wirklich, um sie zu stopfen?
Stand:
Am Neujahrstag 2024 hat Olaf Scholz einen Termin in Niedersachsen. Ganze Landstriche in der Region um Oldenburg sind zu diesem Zeitpunkt nach tagelangen Regenfällen überflutet, Tausende Menschen fürchten um ihr Hab und Gut.
Scholz lässt sich per Helikopter über das Krisengebiet fliegen, besucht Helfer und Betroffene. Am Nachmittag steht er in der Gemeinde Verden an der Aller und sagt, was man als Bundeskanzler bei solchen Ereignissen eben sagt: „Wir werden die Betroffenen nicht alleinlassen“, so Scholz. Der Bund werde den Landkreis unterstützen – „mit seinen Möglichkeiten“.
Viel mehr muss man über den Zustand des Bevölkerungsschutzes in Deutschland eigentlich nicht wissen. Denn diese Möglichkeiten, die Scholz Anfang 2024 zitiert, bedeuten übersetzt: nicht viel.
Riesiger Investitionsstau
Die zuständigen Behörden und Institutionen, die vor allem ehrenamtlich organisiert sind, klagen seit Langem über mangelnde Finanzierung, zu wenig Personal und marodes Gerät. „Wir haben einen manifesten Investitionsstau“, sagt Martin Voß, Leiter der Krisen- und Katastrophenforschungsstelle der FU Berlin.
Seine Kollegin Sylvia Bach von der Bergischen Universität in Wuppertal wird noch deutlicher: „Die Probleme sind immens groß“, sagt sie. „Das Bevölkerungsschutzsystem in Deutschland ist nicht wirklich auf einen Spannungsfall vorbereitet.“
Schaut man sich die Finanzierung des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) sowie des Technischen Hilfswerks (THW) an, ist diese tatsächlich äußerst knapp. Zuletzt stellten diese 1,3 und drei Prozent des Budgets des Bundesinnenministeriums dar. Selbst das Statistische Bundesamt verfügt über mehr Geld.
Wir müssen im Zivil- und Katastrophenschutz endlich Schritt halten mit der fortschreitenden militärischen Verteidigungstüchtigkeit.
Armin Schuster, CDU, sächsischer Staatsminister des Innern
Das ist verwunderlich, denn eigentlich ist seit Jahren klar, dass Deutschland in Sachen Zivilschutz teils erheblichen Nachholbedarf hat. Durch den Klimawandel werden in den kommenden Jahren nicht nur mehr Extremwetterereignisse zu erwarten sein, auch die geopolitische Bedrohungslage hat sich seit dem russischen Angriff auf die Ukraine drastisch gewandelt. Passiert ist dennoch wenig.
Frisches Geld für den Zivilschutz
„Wir müssen im Zivil- und Katastrophenschutz endlich Schritt halten mit der fortschreitenden militärischen Verteidigungstüchtigkeit“, fordert deshalb Sachsens Staatsminister des Innern, Armin Schuster (CDU). Er war von 2020 bis 2022 Präsident des BBK, ist also mit der Mangelwirtschaft vertraut. „Der Bund wird jetzt schnellstmöglich auch für seine Zuständigkeit im Zivilschutz ein Investitionsprogramm umsetzen müssen“, sagt er.
Das könnte nun tatsächlich passieren. Denn die Politik scheint die Schutzlücke erkannt zu haben – oder zumindest Teile von ihr. So bestanden die Grünen in ihrem Ringen mit Union und SPD um eine Zustimmung zu deren Plänen für ein Sondervermögen und eine Reform der Schuldenbremse unter anderem auf mehr Geld für den Zivilschutz.
Mit Erfolg. Der am vergangenen Dienstag vom Bundestag verabschiedete Gesetzesentwurf sieht nun vor, das Budget für den Bevölkerungsschutz zu verdoppeln. Zu den 500 bis 600 Millionen Euro jährlich aus dem regulären Haushalt sollen noch einmal rund 600 Millionen aus dem neuen Verteidigungstopf fließen.
Ob das reicht, ist allerdings unklar. „Allein der akute Investitionsstau würde einen großen Teil der neuen Mittel verbrauchen“, sagt Martin Voß. „Und damit wären die jeweiligen Stellen noch nicht in der Lage, Investitionen zu tätigen.“

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Auch die aktuelle Bundesregierung rechnet damit, dass in den nächsten zehn Jahren mehr als 30 Milliarden Euro für den Zivilschutz ausgegeben werden müssten. Das geht aus einem internen Papier des Bundesinnenministeriums von Nancy Faeser (SPD) hervor, über das der „Spiegel“ berichtet. Neben der Stärkung der militärischen Fähigkeiten der Bundeswehr sei demnach „die zivile Unterstützung“ essenziell.
Das wären etwa drei Milliarden pro Jahr, also mehr als doppelt so viel wie derzeit geplant – das frische Geld aus dem Verteidigungsbudget eingerechnet.
Und auch andere Akteure melden bereits Ansprüche an: Bereits Anfang März forderte etwa DRK-Generalsekretär Christian Reuter 20 Milliarden Euro allein für seine Organisation aus dem geplanten Infrastruktur-Sondervermögen. Verbunden mit einer Warnung vor „gravierenden Mängeln im Bevölkerungsschutz“.
Viele Probleme gleichzeitig
Dabei dürfte es mit mehr Geld allein schwierig werden, diese Mängel sinnvoll zu beheben, wie Sylvia Bach betont: „Wir leben in einer Polykrise, in der eine Priorisierung so gut wie unmöglich ist“, sagt die Forscherin. Das heißt: Im Grunde ist alles gleich wichtig. Der Schutz vor Naturkatastrophen ebenso wie die Vorsorge für den Kriegsfall. Die Resilienz der Demokratie ebenso wie die der technischen Infrastruktur.
„Und es kommen immer neue Bedrohungen dazu“, sagt ihr Kollege Voß. „Derzeit entwickeln sich die USA zu einer Autokratie und wir haben einen Großteil unserer Daten dort gespeichert.“
Diese Vielzahl an Problemen stellt die Bundesrepublik vor eine schwierige Frage: Wo anfangen?
Allein für die Analyse der Schwachstellen könnte man das Geld schon verbraten, wenn man es ernst meint.
Martin Voß, Leiter der Krisen- und Katastrophenforschungsstelle der FU Berlin
Ganz am Anfang, sagt Martin Voß. Denn derzeit wisse man noch nicht einmal, wie viel ehrenamtliches Personal wirklich zur Verfügung stehe und woran es konkret mangele.
„Wir müssen Kapazitäten einführen, die in der Lage sind, eine qualifizierte Schwachstellenanalyse durchzuführen“, sagt er. Dies sei „extrem aufwendig“, das zuständige BBK etwa sei dazu kaum in der Lage. „Allein dafür könnte man das Geld schon verbraten, wenn man es ernst meint.“
Erst dann könne man an konkrete Vorhaben gehen, etwa die dringend notwendige Vereinheitlichung von Standards, die weitere Aufklärung der Bevölkerung, die Sanierung der Liegenschaften und Geräte der zuständigen Stellen.
Dazu gehöre auch, wie beide Experten unterstreichen, die Stärkung des Ehrenamts: „Denn von diesem hängt aktuell unsere Sicherheit ab“, sagt Voß. Dennoch müsse man sich die Frage stellen, ob man zukünftig im Zivilschutz nicht auch auf hauptberufliche Kräfte setzen müsse, so der Wissenschaftler: „Wir sollten das ebenso diskutieren, wie wir es derzeit mit der Reaktivierung der Wehrpflicht tun“, sagt er.
Ungleichheit als Gefahrenfaktor
Manuel Atug, Sprecher der unabhängigen AG Kritis, hingegen plädiert angesichts der vielschichtigen Bedrohungslage für eine länger angelegte Strategie, die über Jahrzehnte angestauten Defizite ließen sich nicht über Nacht beheben, sagt er.
„Wir brauchen einen zeitgemäßen Bevölkerungsschutz“, sagt Atug. „Im Vordergrund stehen dabei soziale Aspekte wie Zusammenhalt, Gleichheit und Menschenschutz als Teil einer Langfriststrategie und für mehr Souveränität der Bevölkerung.“
Deshalb richtete sich Atug zuletzt in einem Papier an die nächste Bundesregierung. Darin fordern er und sechs weitere Experten, zu denen auch Bach und Voß gehören, den Begriff des Bevölkerungsschutzes zu weiten – etwa um das Problem zunehmender sozialer Ungleichheit.
„Nicht nur die Resilienz im Sinne einer Krisenfestigkeit gegenüber akuten Katastrophen ist gefährdet“, sagt Sylvia Bach. „Sondern gegenüber demokratiezersetzenden Dynamiken, die durch soziale Ungleichheit, Desinformation, Polarisierung und institutionelle Vertrauensverluste verstärkt werden.“
Dem könne man nur in einer Form entgegentreten, sagt Bach: „Durch eine informierte, solidarische Gesellschaft.“
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