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Der voraussichtlich nächste Bundeskanzler: Friedrich Merz (CDU).

© Reuters/Annegret Hilse

Internationale Medien zum Koalitionsvertrag: „Keiner seiner Vorgänger stand vor einer vergleichbaren Aufgabe wie Merz“

Kommentatoren im Ausland werten die vorgestellten Pläne der wohl nächsten Bundesregierung nicht als großen Wurf und sehen den nächsten Kanzler vor enormen Problemen – mit der AfD im Nacken.

Stand:

Union und Sozialdemokraten haben am Mittwoch auf dem Weg zu einer neuen Regierung einen Durchbruch erzielt. Bei der Vorstellung ihres Koalitionsvertrags bemühten sich CDU/CSU und Sozialdemokraten in Berlin bemüht, Aufbruchstimmung zu verbreiten. „Hinter uns liegt ein hartes Stück Arbeit, aber vor uns liegt ein starker Plan“, fasste CDU-Chef Friedrich Merz die Verhandlungen mit SPD und CSU zusammen. SPD-Chef Lars Klingbeil nannte den Vertrag ein „Aufbruchsignal“.

Viele internationale Medien sind weitaus skeptischer, sehen in den 140 Seiten Papier eher Klein-Klein und Detailversessenheit denn epochalen Wandel. Einige hoffen, dass Deutschland nun endlich wieder eine Führungsrolle in Europa übernimmt. Hier eine Auswahl der Pressestimmen der dpa:

GROSSBRITANNIEN
„Financial Times“: „Merz, dessen konservatives CDU/CSU-Bündnis die Bundestagswahl im Februar gewonnen hatte, geriet in den letzten Wochen zunehmend unter Druck, die Koalitionsgespräche rasch abzuschließen, da die Unterstützung der Öffentlichkeit für seine Wirtschaftspolitik abnahm. Kurz nach der Wahl hatte Merz beschlossen, das scheidende Parlament zu nutzen, um die Schuldenregeln des Landes zu lockern und überraschend ein Ausgabenprogramm in Höhe von einer Billion Euro auf den Weg zu bringen – was für das Land eine seismische Verschiebung in der Finanzpolitik bedeutete. (...)

Nun drohen Trumps 20-prozentige Zölle auf alle EU-Exporte sämtliche Vorteile aus Merz’ Ausgabenplan, der die Verteidigungsindustrie stärken und die alternde Infrastruktur des Landes verbessern soll, zunichtezumachen. Die größte Volkswirtschaft der Eurozone, deren Bruttoinlandsprodukt zu etwa vier Prozent von Exporten in die USA abhängt, stagniert seit drei Jahren aufgrund höherer Energiekosten, einer geringeren Nachfrage nach deutschen Gütern in China und eines scharfen Wettbewerbs durch chinesische Unternehmen.“

ITALIEN
„La Repubblica“: „Die kleine ehemals große Koalition hat es geschafft. Und nach der Verabschiedung des Riesenplans für Wirtschaft und Verteidigung hat Friedrich Merz die zweite kolossale Hürde auf dem Weg zur Kanzlerschaft genommen, von der er seit einem Vierteljahrhundert träumt, seit er von Angela Merkel brutal aus dem Amt gejagt wurde. 

Zusammen mit der SPD-Führung unterzeichnete der Kanzler in spe einen 144-seitigen Koalitionsvertrag, der die Grundlage für die nächsten vier Jahre stürmischer Fahrt bilden wird, vor allem in der Außenpolitik. Doch dieses Thema ist immer noch der große Abwesende bei den Gesprächen zwischen den beiden Parteien der ehemaligen „großen“ Koalition, die kaum noch eine Mehrheit hat.“

SPANIEN
„El País“: „Die Aushandlung dieses Vertrages war vergleichsweise einfach – verglichen mit den kolossalen Herausforderungen, denen sich der Kanzler nun stellen muss: ein Land in der Rezession, eine Industriekrise, und keine einfachen Antworten auf den wirtschaftlichen und geopolitischen Sturm, den Donald Trump ausgelöst hat. Keiner seiner Vorgänger der vergangenen Jahrzehnte – möglicherweise nicht einmal Helmut Kohl nach der Wiedervereinigung 1990 – stand vor einer vergleichbaren Aufgabe wie Friedrich Merz. (...)

Als PDF-Download: Der schwarz-rote Koalitionsvertrag steht. Worauf sich die Parteien geeinigt haben, können Sie hier nachlesen.

Die zentrale Frage lautet: Ist der Koalitionsvertrag der Herausforderung gewachsen? Der Zwang zum Kompromiss hat Christdemokraten und Sozialdemokraten zu einer eher zahmen Vereinbarung geführt – ein Programm mit wenigen mutigen Ideen und ohne echte Antworten (...)

Der eigentliche Vorteil für Merz liegt jedoch in der großen Entscheidung, die schon vor drei Wochen getroffen wurde: Der alte Bundestag hat eine Grundgesetzänderung beschlossen, die es Deutschland erlaubt, sich zu verschulden und bis zu eine Billion Euro in Verteidigung, Infrastruktur und Umwelt zu investieren. (...)

Dass der Koalitionsvertrag eher bescheiden ist, (...) darf kein Hindernis sein, damit die größte europäische Volkswirtschaft und das bevölkerungsreichste EU-Land endlich wieder die Rolle spielt, die ihm zusteht. In einer Welt mit Donald Trump, Wladimir Putin und Xi Jinping ist das nötiger denn je.“

USA
„Wall Street Journal“: „Wie andere europäische Staats- und Regierungschefs – vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron bis zum britischen Präsidenten Keir Starmer – steht Merz vor einem Rätsel: Wie kann er die tief greifenden und schmerzhaften Veränderungen, die ein zunehmend turbulentes wirtschaftliches und geopolitisches Umfeld erfordert, umsetzen, ohne das zunehmend fragile Vertrauen der Wähler zu verlieren? (...)

Der konservative Parteichef muss sich in den nächsten vier Jahren keiner Wahl stellen, doch in den nächsten zwei Jahren könnte seine Partei bei einer Reihe wichtiger Wahlen auf Landesebene Verluste einfahren. Eine Reihe von Niederlagen könnte die Unterstützung für die künftige Regierung untergraben und den Zusammenhalt der Koalition auf die Probe stellen. Der rapide Rückgang der Unterstützung in der Bevölkerung war einer der Gründe für den Zusammenbruch der letzten deutschen Regierung – ein Jahr früher als geplant.“

SCHWEIZ
„Tages-Anzeiger“: „Die 27-tägigen Verhandlungen und nun der Koalitionsvertrag rufen ziemlich gegensätzliche Reaktionen hervor. Bei Kräften der politischen Mitte dominiert die Erleichterung, dass Deutschland nach der langen Agonie der letzten Regierung bald wieder handlungsfähig ist – in einer Zeit, die kaum größere Herausforderungen stellen könnte.

Unter Konservativen aber sowie bei den radikalen Rechten im Umkreis der AfD, seit der Bundestagswahl größte Oppositionspartei, herrscht Empörung. Deutschland habe im Februar zur Mehrheit rechts oder ganz rechts gewählt – und erhalte nun zum Dank eine „linke Regierung“, heißt es. Und dies nur, weil sich CDU und CSU weigerten, mit der AfD zu regieren.

Merz’ „Verrat“ an seinen Wahlversprechen werde so zum Konjunkturprogramm für die AfD. Dass diese Prognose nicht an den Haaren herbeigezogen ist, zeigen die Umfragen seit der Wahl, in denen CDU und CSU merklich gesunken sind: Just am Tag, als Merz den Koalitionsvertrag präsentierte, wurde erstmals eine nationale Umfrage veröffentlicht, in der die AfD vor den Christdemokraten sogar auf Platz 1 lag.“

„Neue Zürcher Zeitung“: „Der Koalitionsvertrag trägt die Handschrift der Roten. Und angesichts seines Umfangs von mehr als 140 Seiten wurde dabei eine Menge Holz verbraucht. Der angekündigte große Wurf ist es nicht. Zwar mussten die Christlichdemokraten am Ende nicht so viele Positionen aufgeben, wie es zeitweilig den Anschein hatte.

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Doch von der Dringlichkeit, mit der noch vor einigen Wochen das Schuldenpaket durch den Bundestag gepeitscht wurde, von den viel bemühten ‚Wenden‘ oder einem epochalen Wandel ist wenig zu spüren. Eher atmet das Papier das Klein-Klein und die Detailversessenheit früherer Koalitionen. Sogar an die Möglichkeit, Verhütungsmittel kostenlos an Frauen abzugeben, hat man gedacht.“

Für die EU ist Merz nach den kleinmütigen Phantomjahren unter Olaf Scholz eine Bereicherung.

„Die Presse“ aus Österreich

ÖSTERREICH
„Die Presse“: „Merz muss liefern. Ihm sitzt die AfD im Nacken. Es handelt sich vielleicht um die letzte Chance der Mitte in Deutschland. Innenpolitisch wird die Koalition den Rechtspopulisten nur das Wasser abgraben können, wenn sie die irreguläre Migration in den Griff bekommt. (...)

Für die EU ist Merz nach den kleinmütigen Phantomjahren unter Olaf Scholz eine Bereicherung. Der Rechtsanwalt aus dem Sauerland ist bereit, Verantwortung zu übernehmen. (...) Mit 69 Jahren betritt Merz die Bühne als Hoffnungsträger für Deutschland, Europa und die Welt. Er strahlt Selbst­vertrauen aus, hat jedoch keinerlei Regierungserfahrung. Ob er dem Amt, von dem er seit Dekaden träumt, gewachsen ist, wird sich weisen.“

RUSSLAND
„Nesawissimaja Gaseta“: „In Deutschland hat man grünes Licht für die Bildung einer Regierung gegeben. (...) Umfragen zeigen die pessimistische Stimmung in der deutschen Bevölkerung. (...) 57 Prozent der Deutschen sind überzeugt, dass die neue Regierung nicht in der Lage sein wird, die Rezession zu überwinden.

Diese Tatsache lässt Zweifel an der Fähigkeit von Merz aufkommen, seine Versprechen zu erfüllen und das Land aus der wirtschaftlichen Sackgasse zu führen. Zwei Drittel der Befragten glauben, dass er nicht in der Lage sein wird, die Probleme zu lösen, vor denen Deutschland steht. Demnach halten 60 Prozent der Befragten Merz für ungeeignet für das Amt des Bundeskanzlers.

Allerdings entscheiden nicht die Wähler, sondern die Abgeordneten über das Schicksal von Merz. Bislang gibt es keine Anzeichen dafür, dass sich einer der Abgeordneten (der schwarz-roten Koalition) gegen ihn ausgesprochen hat.“ (lem)

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