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Dänische Polizisten kontrollieren an der dänisch-deutschen Grenze in Krusa Fahrzeuge.

© REUTERS

Grenzkontrollen in Europa: Kippt das Schengen-System in der EU?

Angesichts der hohen Zahl ankommender Flüchtlinge steht das Schengen-System in Frage. Wichtige Fragen und Antworten zu möglichen Folgen einer Wiedereinführung allgemeiner Grenzkontrollen.

Unter dem Druck der Flüchtlingskrise könnte eine der wichtigsten Errungenschaften der EU, das Schengen-System, unter die Räder geraten. Im Schengen-Raum, in dem das passfreie Reisen und der problemlose Warenverkehr eigentlich die Regel ist, führen mehrere Länder seit dem vergangenen Herbst vorübergehende Kontrollen durch. Zu diesen Staaten gehört auch Deutschland. In Österreich deuten sich weitere Schritte zur Begrenzung der Flüchtlingszahlen an. In Deutschland spricht Verkehrsministers Alexander Dobrindt (CSU) mit Blick auf die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) davon, man müsse sich darauf vorbereiten, „dass wir um Grenzschließungen nicht herumkommen“. Nicht ein solcher Schritt, sondern ein „Weiter so“ würde Europa sprengen, warnt Alexander Dobrindt.

Welche politischen Folgen hätte eine Schließung der deutschen Grenzen?

Darüber gibt es zwei grundverschiedene Theorien. Die eine führen Merkels Kritiker ins Feld: Sobald sich in Afrika, Syrien oder Afghanistan herumspreche, dass der Weg nach Deutschland versperrt ist, würden die Flüchtlingsströme rasch auf das langjährige Normalmaß zurückgehen. „Die Leute sind vorher nicht in Massen zu uns gekommen“, sagt einer aus diesem Lager, „dahin kommen wir wieder zurück.“

Merkel und ihre Leute sind davon nicht überzeugt. Sie gehen davon aus, dass der Flüchtlingsdruck auf das reiche, friedliche Europa so oder so anhalten wird. „Wenn wir hier die Grenzen schließen“, sagt einer der Verteidiger von Merkels Linie, „dann stehen wir am Tag danach politisch an genau der gleichen Stelle wie heute.“ Es werde dann trotzdem all der komplizierten Instrumente bedürfen, mit denen die Kanzlerin versuche, eine europäische Lösung zu schaffen: Absprachen mit der Türkei inklusive der Übernahme von Flüchtlingskontingenten, Schutz der Außengrenzen, eine Aufrüstung der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex, Aufnahmezentren in den Dublin-Außenstaaten Griechenland und Italien, von dort die Verteilung innerhalb der EU und so weiter und so fort.

Über welche Alternativen wird in Deutschlands gestritten?

Der Streit geht nur um die Reihenfolge: Die CSU und ihre Freunde in der CDU wollen erst zum alten Dublin-System zurückkehren und dann das europäische Problem lösen, Merkel besteht auf der umgekehrten Reihenfolge.

Die Kritiker untermauern ihre Forderung in erster Linie innenpolitisch. In Briefen aus Berlin und München, die die Kanzlerin am Dienstag erreichten, warnen Abgeordnete vor „Überforderung“ und „Verzweiflung und Wut der Bürger“. Die Ängste vor der Zukunft seien „mit Händen greifbar“, schreiben drei Dutzend CSU-Landtagsabgeordnete an die Kanzlerin. Der Brief ist ein Vorgeschmack auf die Aussprache, die Merkel am Mittwoch als Gast der Landtagsfraktion im Wildbad Kreuth erwartet.

Der zweite Brief aus der eigenen Bundestagsfraktion kam mit 44 Unterschriften im Kanzleramt an. Das sind deutlich weniger, als die Initiatoren gehofft hatten. Sie schätzen, dass eigentlich ein Drittel der 310 Abgeordneten von CDU und CSU ihre Position teilt. Aber selbst viele Abgeordnete der CSU mochten nicht unterschreiben. Der Brief hat spätestens seit der CDU-Vorstandssitzung ja auch den Charakter einer Kampfansage. Fraktionschef Volker Kauder und die Landtagswahlkämpfer der CDU waren die Rebellen scharf angegangen. „Einfach mal die Klappe halten“, forderte Julia Klöckner, die im März in Rheinland-Pfalz die Wahl gewinnen will; auch Guido Wolf aus Baden-Württemberg verlangte Ruhe vor den Wahlkämpfen.

Wie verhält sich die Bundeskanzlerin?

Dass es so wie bisher nicht weiter gehen kann, würde allerdings wohl auch Merkel unterschreiben. Tatsächlich sind sich die Kanzlerin und ihre Kritiker in einem Punkt sehr viel näher, als es im öffentlichen Schlagabtausch den Anschein hat: Beide sind zu dem Schluss gekommen, dass ein deutscher Abschied vom Schengen-System der offenen Grenzen in Europa eine so ernsthafte Drohung darstellt, dass sie die bisher unwilligen EU-Partner zur Gemeinsamkeit in der Flüchtlingsfrage zwingen könnte.

Merkel hat das Szenario schon mehrfach als deutschen Plan B aufscheinen lassen, Finanzminister Wolfgang Schäuble hat es unlängst in Brüssel bekräftigt. Kommissionschef Jean-Claude Juncker sekundiert mit der zusätzlichen Warnung, dass ohne offene Grenzen auch das Euro-System in Gefahr gerate.

Dass es die Kanzlerin vorerst lieber bei der Drohung belässt, dürfte nicht zuletzt verhandlungstaktische Gründe haben. Aber ihre Leute warnen vor einem deutschen Vorpreschen auch deshalb, weil das die angespannten Beziehungen zu den Nachbarn weiter verschlechtern und Kompromisse weiter erschweren würde.

Dass es Merkels schwerste Niederlage wäre, wenn sie tun müsste, was Horst Seehofer und andere seit langem fordern, darüber redet lieber keiner offen. Aber Merkels Sturheit zeigt, dass ihr selber das nur allzu klar ist. Sie will, hat unlängst einer ihrer prominentesten Gegner vermutet, erst dann umschwenken, wenn sich der europäische Weg als undurchsetzbar erweist. „Sie will sagen können, dass sie alles versucht hat“, sagte der Mann. Wenn sie das ihren Wählern und Anhängern glaubhaft machen könne, dann habe sie sogar eine Chance, nicht als schmachvoll Unterlegene vom Platz zu gehen. Zumal, wie gesagt, am Tag nach der Rückkehr des Schlagbaums alles von vorne anfinge: Absprachen mit der Türkei, Schutz der Außengrenzen und so weiter und so fort.

Wie geht Österreich mit der Flüchtlingskrise um?

An diesem Mittwoch findet in Wien ein Asyl-Gipfel der österreichischen Bundesregierung mit allen Landeshauptleuten statt, die mit den Ministerpräsidenten in Deutschland vergleichbar sind. Bei dem Treffen solle es darum gehen, die Flüchtlingszahlen „deutlich zu reduzieren“, erklärte eine Sprecherin des österreichischen Regierungschefs Werner Faymann.

Sowohl in Deutschland als auch in Österreich sind die Behörden inzwischen dazu übergegangen, strikter gegen nicht asylberechtigte Migranten vorzugehen. Nachdem Schweden schärfere Ausweiskontrollen eingeführt hatte, werden in Deutschland an der Grenze zu Österreich seit Beginn des Jahres Flüchtlinge abgewiesen, die Deutschland lediglich als Transitland nutzen und in Schweden Asyl beantragen wollen. Die Maßnahme gilt aber als wenig effektiv, weil viele abgewiesene Flüchtlinge kurze Zeit später wieder an der deutsch-österreichischen Grenze auftauchen. Weiter im Süden entlang der Balkanroute, an der österreichisch-slowenischen Grenze, wird Migranten, die sich nicht ausweisen können oder deren Papiere gefälscht sind, ebenfalls vermehrt die Einreise nach Österreich verweigert. Gegenwärtig kommen nach Angaben des Wiener Innenministeriums jeden Tag im Schnitt 3000 Flüchtlinge nach Österreich. Zum Vergleich: Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise wurden pro Tag 19 000 Grenzübertritte registriert.

Wie will Österreich die Flüchtlingszahlen begrenzen?

Vor dem Wiener Asyl-Gipfel war unklar, in welchem Maße die Flüchtlingszahlen reduziert werden sollen. Während der sozialdemokratische Bundeskanzler Faymann darauf setzt, vermehrt nicht asylberechtigte Migranten abzuschieben und die Kontrollen an der Grenze zu Slowenien noch weiter zu verschärfen, möchte sein Koalitionspartner von der konservativen ÖVP – ähnlich wie die CSU in Deutschland – eine Obergrenze für Flüchtlinge festsetzen.

Am Montag hatte Außenminister Sebastian Kurz beim EU-Außenministertreffen in Brüssel darauf hingewiesen, dass Österreich im vergangenen Jahr 90 000 Flüchtlinge aufgenommen habe. „Wir können im Jahr 2016 nicht mehr so hohe Zahlen haben“, sagte er. Im ZDF machte der ÖVP-Mann deutlich, dass eine Schließung der österreichischen Grenzen kein Tabu mehr für ihn ist. Wenn EU-Staaten begännen, Grenzen zu schließen oder Obergrenzen einzuführen, dann würde dies „einen gewissen Dominoeffekt innerhalb der EU“ herbeiführen, „und das wäre vielleicht sogar ein Treiber für eine europäische Lösung“, sagte er.

Offenbar setzt die österreichische Regierung in der Flüchtlingskrise auf eine zweigleisige Strategie. Einerseits möchte Wien die Kontrollen an der österreichisch-slowenischen Grenze verschärfen. Zu diesem Zweck nimmt im österreichischen Spielfeld an diesem Mittwoch eine neue Grenzabfertigungsstelle ihren Probebetrieb auf. An dem Kontrollpunkt sollen 500 Soldaten des österreichischen Bundesheeres im Einsatz sein. Der zweite Teil der österreichischen Flüchtlings-Strategie zielt darauf ab, Deutschland für eine mögliche gemeinsame Überwachung der Schengen-Außengrenze in Slowenien zu gewinnen. So wiederholte der österreichische Chefdiplomat Kurz in Brüssel den Vorschlag, dass Deutschland, Österreich und Slowenien künftig die slowenischen Grenzen gemeinsam schützen könnten.

Was bedeuten Grenzkontrollen für die deutsche Wirtschaft?

Die neue Debatte über Grenzpfähle und Passkontrollen wird von der Wirtschaft kritisch beobachtet „Die Wiedereinführung der Grenzkontrollen im Schengen-Raum hätte massive Auswirkungen auf den deutschen Außenhandel“, warnt Anton Börner, Präsident des Außenhandelsverbandes BGA. Ein Bruch mit den Schengen-Richtlinien würde die gesamte deutsche Industrie schwer mitnehmen. Das zeigt ein Blick auf die jüngsten Export-Zahlen vom Statistischen Bundesamt: Von Januar bis November 2015 exportierten deutsche Unternehmen demnach Waren und Dienstleistungen im Wert von 642 Milliarden Euro in die EU-Mitgliedstaaten. Die Exporte in die restliche Welt beliefen sich auf 461 Milliarden Euro. Rund 70 Prozent des deutschen Warenhandels mit dem Ausland werden innerhalb Europas abgewickelt, vor allem mit den Ländern der Euro-Zone“, sagt BGA-Präsident Börner.

Die größten Einbußen müssten deutsche Unternehmer dabei an der österreichischen Grenze fürchten, sagt Handelsexperte Gabriel Felbermayr vom Ifo-Institut: „2014 wurden dort Waren im Wert von etwa 300 Milliarden Euro gehandelt.“ Das entspricht einem Anteil von gut 15 Prozent am deutschen Gesamthandel. „Die Grenze ist deshalb so wichtig, weil dort nicht nur der gesamte Handel mit Österreich abgewickelt wird, sondern auch große Teile des Handels mit Italien, Tschechien, Ungarn, dem Balkan und Südosteuropa.“ Durch die Flüchtlingskrise laufe der Handel dort ohnehin bereits holprig: „Wartezeiten von eineinhalb Stunden sind an der Grenze zu Österreich mittlerweile die Norm.“ Für Logistikunternehmen resultiert daraus ein deutlicher Effizienzverlust: Weil die Warenlieferungen langsamer ans Ziel gelangen, verringere sich auch der Warenwert, sagt Felbermayr: „Die Wartezeiten wirken sich wie eine Zollbarriere aus.“

Was fordert die Wirtschaft?

Neben dem Güterhandel wäre auch der Dienstleistungssektor betroffen. Denn sollten die Grenzkontrollen wieder eingeführt werden, dürfte auch der Tagestourismus zwischen Deutschland und Österreich zurückgehen und somit den Konsum in der Grenzregion in Mitleidenschaft ziehen. „Der sogenannte kleine Grenzverkehr hat sich in den letzten Jahren enorm entwickelt und trägt in nicht unerheblichem Maß zu den Handelsumsätzen vor Ort bei“, sagt Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands HDE. „Viele Händler haben sich auf Kunden aus dem Nachbarland eingestellt.“ Angesichts der möglichen Auswirkungen warnen die Wirtschaftsvertreter daher eindringlich vor neuen Grenzkontrollen. „Wir sehen hier sogar die europäische Idee in ihren Fundamenten gefährdet“, sagt BGA-Präsident Anton Börner. Auch Ifo-Ökonom Felbermayr zeigt sich alarmiert: „Der Binnenmarkt ist die wichtigste Errungenschaft der Europäischen Union und wäre mit neuen Grenzkontrollen in Gefahr.“ Statt die Binnengrenzen zu schließen, drängt der Ökonom die Politik daher dazu, an der Peripherie tätig zu werden: „Um den Schengen-Raum – und damit den Binnenmarkt – funktionsfähig zu halten, müssen die Außengrenzen der EU endlich ernst genommen werden.“

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