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Lothar H. Wieler ist Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI) spricht und gestikuliert mit beiden Händen.

© Kay Nietfeld/dpa

RKI-Chef platzt der Kragen: Plötzlich gibt es einen neuen Lothar Wieler

Schon früh warnte das RKI davor, wie groß die Welle bei zu wenig Geimpften wird. Jetzt ist die Lage außer Kontrolle – und Wielers Ton verändert sich.

Als Lothar Wieler den Corona-Ausbruch in Wuhan noch für ein lokales Problem in China hielt, fassten Ugur Sahin und Özlem Tureci am 25. Januar 2020 den Entschluss, mit ihrem Unternehmen Biontech das Projekt Lightspeed zu starten: die Entwicklung eines Impfstoffes auf mRNA-Basis.

Damals gab es weltweit weniger als 1000 bestätigte Fälle, aber Sahin hatte in einem Fachjournal über das Wochenende die Infektionsmuster studiert - und die Verkehrsanbindungen der Millionenmetropole Wuhan in alle Welt.

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Der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI) musste sich erst Schritt für Schritt an die Lage, die sich rasch zur Pandemie auswuchs, gewöhnen, all die täglichen Zahlenflüsse an regionalen Inzidenzen und Intensivbettenbelegung organisieren und ordnen.

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Erst im April 2020 kam es zur Empfehlung, dass Bürger an Orten mit vielen Kontakten Schutzmasken tragen sollen, es kam die Zeit der Stoff- und Behelfsmasken, die in Heimarbeit genäht werden können, wie das RKI empfahl.

Jeder ist fehlbar in so einer Pandemie, so war es auch immer mal wieder bei dem bedächtigen Lothar Wieler, dem Chef der für die Pandemiebekämpfung federführend zuständigen Bundesbehörde. Aber vergangene Woche hat es einen neuen Wieler gegeben, dem Pandemiesachstandserklärer ist der Kragen geplatzt.

Im Sommer schien für viele Bürger, Politiker, aber auch Medien die Pandemie überwunden, im Bundestagswahlkampf kümmerte sich keiner so recht um Hinweise, dass die Schutzwirkung der Impfungen schneller nachlässt als gedacht.

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Bei einem Besuch des RKI am 13. Juli versprach Kanzlerin Angela Merkel (CDU), nachdem tags zuvor Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eine Impfpflicht unter anderem für Pfleger angekündigt hatte: „Wir haben nicht die Absicht, diesen Weg zu gehen, den Frankreich vorgeschlagen hat. Wir haben gesagt, es wird keine Impflicht geben.“ Frankreich steht heute viel besser da.

Kanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn besuchen im Juli RKI-Präsident Lothar Wieler.
Kanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn besuchen im Juli RKI-Präsident Lothar Wieler.

© Michael Kappeler/dpa

Ende August sagte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) in München, 60 Prozent der Bürger seien nun zweifach geimpft: „Daher wird es jetzt definitiv keinen Lockdown mehr geben oder Beschränkungen, wie wir sie hatten.“ Seither ist die Impfquote aber nur auf 68 Prozent gestiegen.

SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz sagte Anfang September in der ARD-„Wahlarena“: „Corona ist ja bald vorbei.“ Und auch die letzten Wochen waren von Zögern und dem Gezerre um das neue Infektionsschutzgesetz zwischen der scheidenden und der wohl künftigen Regierung geplant.

Am 22. Juli legte das RKI genau dar, welche vierte Welle bei welcher Impfquote droht

Dabei hatte das RKI schon am 22. Juli genaue Modellrechnungen vorgelegt, was wegen der hochansteckenden Delta-Variante im Herbst bei welcher Impfquote drohen könnte. Selbst bei einer Quote von 75 Prozent könne es demnach bis November – ohne Kontaktreduzierungen – zu über 6000 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen kommen.

Laut der Modellierungen könnten die meisten Infektionen Erwachsene unter 60 und Kinder unter 12 Jahren betreffen. Und höhere Impfquoten von 85 bis 95 Prozent, Verhaltensänderungen und frühzeitige präventive Maßnahmen lassen die Kurven deutlich abflachen – immer hatte Wieler gewarnt, dass die Pandemie erst bei einer Impfquote von rund 85 Prozent im Griff ist.

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Nun ist die Impfquote noch weiter unter den Erwartungen von zumindest 75 Prozent geblieben - ähnlich wie in Österreich – und die Lage übertrifft die weder einmal von vielen als alarmistisch kritisierten RKI-Szenarien aus dem Juli. Schon damals betonte die Bundesbehörde: „Ein höherer Anteil an "Impfdurchbrüchen“ oder von Reinfektionen könnte den Anteil schwerer Erkrankungen erhöhen."

Das RKI rät daher am 22. Juli, „jetzt“ Auffrischimpfungen, insbesondere für Ältere und Risikogruppen, zu planen.

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Zudem könne eine Änderung der Teststrategie „zu einer Erhöhung der Untererfassung“ in bestimmten Altersgruppen führen, warnte seinerzeit das RKI. Durch die Abschaffung der kostenlosen Schnelltests sollte der Impfdruck erhöht werden, zugleich ging die Testanzahl zurück.

Die Welle konnte sich weitgehend unbemerkt und rasend schnell aufbauen, weil die Dunkelziffer an Infektionen so hoch war. In Sachen Kommunikation wurde im Juli in Richtung Bundesregierung adressiert: die Bevölkerung solle frühzeitig darüber informiert werden, dass es im Winter wieder zu einer starken Belastung des Gesundheitswesens und möglicherweise Überlastung kommen kann; etwa bei der ECMO-Kapazität, speziellen Maschinen für Patienten mit schwerem Lungenversagen.

Das Verhalten jedes Einzelnen habe Einfluss auf den Umfang und die Folgen der Infektionen im Herbst und Winter. Doch mit all dem blieb man ungehört.

Blick auf eine Intensivstation in Leipzig, Sachsen ist besonders von der Corona-Welle betroffen.
Blick auf eine Intensivstation in Leipzig, Sachsen ist besonders von der Corona-Welle betroffen.

© Jan Woitas/dpa

Fast zeitgleich warnte auch der Virologe Christian Drosten vor der Gefahr einer starken vierten Welle, wenn die Impfquote nicht deutlich gesteigert werde. Er machte sich in der Öffentlichkeit zunehmend rar, der „Zeit“ sagte er dazu: „Ich will nicht zu einem Papagei werden, der immer dieselbe Botschaft verbreitet."

Zwei Auftritte, die anders als die bisherigen sind

Als erstes hatte Wieler vergangenen Mittwochabend alle Rücksicht fahren lassen, bei einer Online-Schalte mit Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU). „Wenn wir Sie bitten dürften, uns ein Stück mitzunehmen und uns Ihre Meinung zu übermitteln“ sagt Kretschmer zur Einleitung.

Und der übermittelte Stand ist mehr als deutlich. Wieler, im blauen Pullover, ist zugeschaltet aus seiner Wohnung. Hinter der Zahl von 52.000 Neuinfektionen an dem Tag würden sich „mindestens doppelt oder drei Mal so viele“ verbergen. Eben weil zuletzt viel weniger getestet wurde. Und er betont: „Wir haben in den letzten Wochen eine Case-Fatality-Rate, also eine Rate von Meldungen zu Verstorbenen, von etwa 0,8 Prozent. Das heißt also, von diesen 52.000 dort werden (…) 400 etwa sterben.“ In der Bundespressekonferenz habe er es ja  immer zurückhaltender gesagt, mindestens 200.

Wieler liest Kretschmer die Leviten

„Und was mir wichtig ist, das müssen alle, die jetzt zuhören, ganz klar begreifen: Daran gibt’s nichts mehr zu ändern. Wir können das nicht mehr ändern. Diese Menschen sind ja infiziert. Davon gehen dann eben 3000 ins Krankenhaus, davon gehen ein paar hundert auf Intensiv, davon sterben eben so viele. (…) Niemand von uns, der hier sitzt, kann diesen Typen noch helfen. Das ist ein Eimer Wasser, der ist ausgeschüttet, den kriegen Sie nicht mehr rein. (…)  Das Kind ist in den Brunnen gefallen.“

Von den Über-60-Jährigen seien drei Millionen nicht geimpft, „wenn alleine die alle infiziert würden, dann wären alleine von denen unsere Intensivbetten schon alle belegt - wenn sie denn alle auf Intensiv überhaupt noch kommen“.

Bekanntes Bild: Lothar Wieler und Hens Spahn zur Corona-Lage in der Bundespressekonferenz
Bekanntes Bild: Lothar Wieler und Hens Spahn zur Corona-Lage in der Bundespressekonferenz

© imago images/Jürgen Heinrich

Es geht jetzt auch um die politische Mitverantwortung, in wenigen Tagen wir die Schwelle von 100 000 Pandemieopfern in Deutschland überschritten. An die Modellrechnungen schon im Juli erinnert Wieler auch vergangenen Freitag. Wie in den Wellen zuvor sitzt er immer freitags um 10 Uhr mit Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) auf dem Podium der Bundespressekonferenz mit der bekannten blauen Wand im Hintergrund.

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Der 60 Jahre alte Fachtierarzt für Mikrobiologie leitet das RKI seit 2015 und hat sich bei der Beratung von Bundes- und Landesregierungen oft den Mund fusselig geredet. Mit ruhiger Stimme erklärt und mahnt er bei seinen öffentlichen Auftritten. Aber nun nimmt er auch hier kein Blatt mehr vor den Mund, entschlüpft der Rolle des Corona-Diplomaten.

Schon im Juli habe das Robert Koch-Institut auf die drohende vierte Welle hingewiesen. Und Wieler stellt klar, dass RKI schon damals  zur Booster-Impfung geraten habe. Christian Drosten habe ja gesagt, er sei kein Papagei. „Ich bin schon lange ein Papagei.“

Der RKI-Chef warnt jetzt bereits vor der 5. Welle

Für ihn ist es schlichtweg nicht mehr zu ertragen, dass zu wenig die Tragweite gesehen worden ist. Und er scheint sich längst nicht so sicher zu sein wie Olaf Scholz, den er künftig statt Angela Merkel mit Briefings versorgen wird, dass der von den Ampel-Parteien im Bundestag beschlossene neue Instrumentenkasten reichen wird.

Ministerpräsident Kretschmer hat nach Wielers Brandrede einen harten Lockdown in Sachsen verhängt. Das erlaubt das neue Infektionsschutzgesetz noch für eine Übergangszeit, aber am 15. Dezember muss er enden.

Und egal wie hoch die Inzidenz dann ist und wie voll die Intensivstationen sind: Gemäß des Gesetzes müssten dann Clubs, Bars, Kneipen und Restaurants ohne Sperrstunde in Sachsen wieder öffnen – denn deren Betriebseinschränkung wird den Ländern mit dem Gesetz untersagt, es setzt vor allem auf 2G- und 2G-Plus-Regelungen, um Geimpfte nicht in ihren Rechten einzuschränken.

Man muss kein Prophet sein, Wieler wird auch im Dezember noch dramatische Auftritte haben. Und man sollte vielleicht mehr auf seine neueste Warnung hören. Der Deutschen Presse-Agentur sagte er nun: „Wenn das Verringern der Kontakte und das Impfen nicht intensiv gelingt, werden wir nach den jetzigen Modellierungen auch noch eine fünfte Welle bekommen.“

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