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Die italienische Küstenwache (rechts) beobachtet vor der Küste Siziliens die Rettungsaktion der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“, die Migranten und Flüchtlinge im Mittelmeer von einem Boot in Seenot retten.

© dpa/-

Update

Einigung nach zähen Verhandlungen: EU-Staaten wollen Asylverfahren deutlich verschärfen

In Luxemburg stimmten die EU-Staaten für umfassende Reformpläne bei Asylverfahren. Bundesinnenministerin Nancy Faeser spricht von einem „historischen Erfolg“.

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Die Asylverfahren in der EU sollen angesichts der Probleme mit illegaler Migration deutlich verschärft werden. Bei einem Innenministertreffen in Luxemburg stimmte am Donnerstag nach stundenlangen Verhandlungen eine ausreichend große Mehrheit an Mitgliedstaaten für umfassende Reformpläne, wie der EU-Ratsvorsitz mitteilte.

Sie sehen insbesondere einen deutlich rigideren Umgang mit Migranten ohne Bleibeperspektive vor. So sollen ankommende Menschen aus als sicher geltenden Ländern künftig nach dem Grenzübertritt unter haftähnlichen Bedingungen in streng kontrollierte Aufnahmeeinrichtungen kommen. Dort würde dann im Normalfall innerhalb von zwölf Wochen geprüft werden, ob der Antragsteller Chancen auf Asyl hat. Wenn nicht, soll er umgehend zurückgeschickt werden.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat die Einigung als historisch bezeichnet. „Das ist ein historischer Erfolg – für die Europäische Union, für eine neue, solidarische Migrationspolitik und für den Schutz von Menschenrechten“, schrieb die SPD-Politikerin am Donnerstagabend bei Twitter.

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Bundesaußenministerin Annalena Baerbock verteidigte den EU-Kompromiss. Er sei „ganz und gar kein einfacher. Zur Ehrlichkeit gehört: Wenn wir die Reform als Bundesregierung alleine hätte beschließen können, dann sähe sie anders aus“, schrieb die Grünen-Politikerin in einer Erklärung, die während ihres Besuches in der kolumbianischen Stadt Cali veröffentlicht wurde.

Ein Nein oder eine Enthaltung Deutschlands zu der Reform hätte mehr Leid, nicht weniger bedeutet.

Außenministerin Annalena Baerbock

„Aber zur Ehrlichkeit gehört auch: Wer meint, dieser Kompromiss ist nicht akzeptabel, der nimmt für die Zukunft in Kauf, dass niemand mehr verteilt wird“, so Baerbock. Ein Scheitern der Reform hätte bedeutet, „dass Familien und Kinder aus Syrien oder aus Afghanistan, die vor Krieg, Folter und schwersten Menschenrechtsverletzungen geflohen sind, ewig und ohne Perspektive an der Außengrenze festhängen“, schrieb Baerbock. „Ein Nein oder eine Enthaltung Deutschlands zu der Reform hätte mehr Leid, nicht weniger bedeutet.“

Vizekanzler Robert Habeck verteidigte die EU-Asyleinigung trotz aller Vorbehalte. „Dass die EU trotzdem zusammenfinden kann, ist gerade in einer Zeit, in der wir als Union zusammenstehen müssen, ein Wert“, sagte der Grünen-Politiker am Donnerstagabend der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.

„Ich habe hohe Achtung vor denen, die aus humanitären Gründen zu anderen Bewertungen kommen. Ich hoffe, sie sehen auch, dass es Gründe gibt, dieses Ergebnis anzuerkennen.“ Der Kompromiss, den Habeck sehr schmerzhaft nannte, sei „das Ergebnis harten Ringens und schwerer Abwägungen“.

Auch der Grünen-Vorsitzende Omid Nouripour bezeichnete die EU-Entscheidung als schwierig, aber notwendig. Die Situation an den europäischen Grenzen sei für Schutzsuchende unerträglich, schrieb Nouripour am Donnerstagabend bei Twitter. „Wir Grünen haben gemeinsam dafür gekämpft, dass wir zu einer europäischen Lösung kommen, die Humanität und Ordnung zusammenbringt. Die heutige Entscheidung war schwierig. In der Gesamtschau kommen wir zu unterschiedlichen Bewertungen.“ 

Die deutsche Zustimmung hätte es nicht geben dürfen, sie ist ein historischer Fehler.

Grünen-Bundestagsabgeordneter Julian Pahlke 

Bei den Grünen waren die Pläne für die Neuregelungen im Vorfeld auf scharfe interne Kritik gestoßen. „Diese Einigung lässt die Außengrenzstaaten alleine und löst nicht ein Problem, das wir in Europa haben“, sagte der Grünen-Bundestagsabgeordnete Julian Pahlke dem Tagesspiegel.

„Diese Reform ist ein historischer Bruch mit den europäischen Werten. Dieses neue System wird für viel Leid und weitere Entrechtung sorgen. Es wird auf lange Zeit ein finsterer Tag für humanitäre Verantwortung in Europa sein. Die deutsche Zustimmung hätte es nicht geben dürfen, sie ist ein historischer Fehler. Die deutsche Bundesregierung hätte niemals für diesen schmutzigen Deal einschlagen dürfen.“

Die Bundesregierung hatte sich in den Verhandlungen nachdrücklich dafür eingesetzt, dass Familien mit Kindern von den sogenannten Grenzverfahren ausgenommen werden. Um den Durchbruch zu ermöglichen, musste sie allerdings letztlich akzeptieren, dass dies doch möglich sein könnte.

Änderungen durch EU-Parlament möglich

Faeser sagte bei dem Treffen allerdings, dass sich die Bundesregierung weiter dafür einsetzen wird, dass alle Kinderrechte gewährt bleiben. Denkbar ist auch, dass das EU-Parlament noch Änderungen durchsetzt. Es hat bei der Reform ein Mitspracherecht und wird in den kommenden Monaten mit Vertretern der EU-Staaten über das Projekt verhandeln.

Lange hatten die Innenminister der 27 EU-Staaten bei ihrem Treffen versucht, einen Durchbruch bei der seit Jahren umstrittenen Reform des EU-Asylsystems zu erzielen. Auf dem Tisch lag ein Vorschlag des schwedischen EU-Vorsitzes, der beschleunigte Asylverfahren für Migranten ohne Bleibeperspektive an den EU-Außengrenzen vorsieht.

Eine Einigung blieb zunächst aus, die Beratungen wurden unterbrochen. Schwedens Migrationsministerin Maria Malmer Stenergard kündigte nach Angaben schwedischer Medien einen „letzten Versuch“ an, eine Lösung zu finden. 

Länder wie Italien, Griechenland und Bulgarien, aber auch Österreich, Ungarn und Polen machten bei dem Treffen deutlich, dass ihnen ein Teil der vorgesehenen Regeln für einen effizienteren Kampf gegen illegale Migration nicht weit genug geht. Sie forderten insbesondere, dass abgelehnte Asylbewerber grundsätzlich auch in Nicht-EU-Länder abgeschoben werden können sollen.

Staaten wie Deutschland wollten dies aber nur dann möglich machen, wenn die betreffenden Personen eine Verbindung zu diesem Land haben. Dies könnte zum Beispiel der Fall sein, wenn sie früher mal in dem Land gelebt oder gearbeitet haben. Ein reiner Transitaufenthalt sollte aus deutscher Sicht nicht ausreichend sein.

Mehr Solidarität mit Staaten an den Außengrenzen

Österreichs Innenminister Gerhard Karner erklärte zu Beginn der Tagung in Luxemburg, er erwarte, dass man demnächst „schnellere, schärfere und damit gerechtere Verfahren an den EU-Außengrenzen“ durchführen könne. Zudem setze er darauf, dass in Zukunft ebenfalls Asylverfahren in sicheren Drittstaaten möglich würden, erklärte der ÖVP-Politiker weiter. So könne verhindert werden, dass „sich Menschen über das Meer auf den Weg machen und dabei ertrinken“.

Neben den verschärften Asylverfahren sehen die beschlossenen Pläne auch mehr Solidarität mit den stark belasteten Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen vor. Sie soll künftig nicht mehr freiwillig, sondern verpflichtend sein. Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, würden zu Ausgleichszahlungen gezwungen werden. Länder wie Ungarn stimmten deswegen gegen den Plan.

Von der Pflicht zur Solidarität könnten beispielsweise Länder wie Italien profitieren. Nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats wurden in Italien in diesem Jahr bereits mehr als 50.000 Migranten registriert, die über das Mittelmeer kamen. Die meisten von ihnen kamen aus Tunesien, Ägypten und Bangladesch und hatten damit so gut wie keine Aussichten auf eine legale Bleibeperspektive.

Die noch ausstehenden Verhandlungen mit dem EU-Parlament sollen im Idealfall noch vor Ende des Jahres abgeschlossen werden. Dann könnten die Gesetze noch vor der Europawahl im Juni 2024 beschlossen werden. Sollte dies nicht gelingen, könnten veränderte politische Kräfteverhältnisse Neuverhandlungen nötig machen.

Kanzler Olaf Scholz (SPD) hatte zuvor Verständnis für die Haltung von Mittelmeeranrainern wie Italien und Griechenland gezeigt. Angesichts der steigenden Zahlen von Migranten an den Außengrenzen der beiden Länder stünden die Regierungen in Rom und Athen einer „enormen Herausforderung“ gegenüber, sagte Scholz vor dem EU-Innenministertreffen der italienischen Zeitung „Corriere della Sera“.

Kanzler Olaf Scholz traf am Donnerstag in Rom die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni.
Kanzler Olaf Scholz traf am Donnerstag in Rom die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni.

© dpa/Michael Kappeler

Nach den Worten des Kanzlers seien Italien und andere EU-Mittelmeerstaaten ebenso wie Deutschland auf besondere Weise betroffen. „Wir brauchen eine solidarische Verteilung von Verantwortung und Zuständigkeit zwischen den EU-Staaten sowie die Einhaltung der Standards für Schutzsuchende in den Asylverfahren und bei der Integration in den EU-Staaten“, fügte er hinzu. 

Die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katarina Barley, machte deutlich, dass eine Einigung unter den EU-Innenministern noch nicht der Endpunkt bei der europäischen Gesetzgebung zur Reform des Asylsystems ist. Man werde im Europaparlament eine inhumane Flüchtlingspolitik zu verhindern suchen, sagte die SPD-Politikerin im Deutschlandfunk, bevor es zu der Einigung kam.

Die Verhandlungen im Parlament könnten allerdings Monate dauern, erklärte Barley weiter.  In diesem Fall würde nach ihren Worten möglicherweise die Zeit nicht mehr reichen, um das Projekt vor der Europawahl in einem Jahr abzuschließen. (mit Agenturen)

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