
© Marie Staggat für den Tagesspiegel
35 Jahre nach dem Wende-Herbst: Der steinige Weg zum „Ost-Stolz“
Auf der Veranstaltung zum Jahrestag der Berliner Großdemonstration 1989 stößt Vergangenheit auf Gegenwart.
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Die Deutsche Demokratische Republik hat 40 Jahre gehalten. Im Herbst 1989 wurde sie wegdemonstriert. Friedliche Revolution, demokratischer Umbruch, die alten Länder wurden zu neuen Ländern, die dann der Bundesrepublik beitraten. Recht früh kam der Begriff Wendezeit auf. Beitrittsgebiet ist ein Begriff aus jener Zeit. Oder Neufünfland.
Und irgendwann gab es „den Osten“. Was geografisch nicht völlig unkorrekt war, ist dann schnell zu einem politischen Begriff geworden. In dem sich so einiges gesammelt hat: eine Art virtuelle Fortsetzung der DDR, Revolutionserfahrungen, Neubeginn, dann die bisweilen turbulenten Umbrüche der 1990er-Jahre, schließlich das Einschwenken in den bundesdeutschen Mainstream, ohne Eigenheiten zu verlieren oder sie auch hervorzubringen. Im Politischen zuletzt das Erstarken der AfD vor allem im Osten.
Der Tagesspiegel hat am Montag eine Konferenz „Der Osten“ veranstaltet, moderiert und eingeleitet von Herausgeber Stephan-Andreas Casdorff, Chefredakteur Christian Tretbar und der Beiratsvorsitzenden der Konferenz, Ulrike Teschke. Am 35. Jahrestag der großen Demonstration gegen das SED-Regime auf dem Berliner „Alex“. Der Zweck: dem Phänomen auf die Spur kommen und Initiativen aus dem Osten oder für den Osten Aufmerksamkeit zu geben. Mit dabei: der Ostbeauftragte der Bundesregierung, der SPD-Politiker Carsten Schneider. Den Posten gibt es seit 1998, der erste Amtsinhaber hieß Rolf Schwanitz, auch von der SPD.
„Massiver Freiheitsgewinn“
Schneider sagte, man dürfe die Interpretation der Geschichte nicht denen überlassen, die sie populistisch oder extremistisch missbrauchen wollten. Er plädierte dafür, sich gerade jetzt wieder von den Ereignissen im Herbst 1989 inspirieren zu lassen, wenn es um das Bekenntnis zur Demokratie gehe. 1989 habe einen „massiven Freiheitsgewinn“ gebracht.
Aber Schneider sprach auch von der „schnellen Entpolitisierung“ im Osten bald danach, verbunden mit dem „Trauma“ der Jobverluste, der beruflichen Degradierung, der Arbeitslosigkeit, die – wie das Ereignis der Revolution – eine Erfahrung vor allem der neuen Länder war und das kollektive Gedächtnis dort, so Schneider, tief geprägt habe.
Der Ostbeauftragte ist nicht ohne Grund erst 1998 entstanden. Der sachsen-anhaltische Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) berichtete auf der Veranstaltung, dass die „Spezies der Ossis“ erst Ende der 90er Jahre in den Umfragen aufgetaucht sei. Davor sei mehr die regionale Identität betont worden, oder eben die Tatsache, dass man Deutscher oder Deutsche sei.
Damals sei dann auch „das Gefühl gezüchtet worden, dass der Ossi ein Mensch zweiter Klasse sei“, sagte Haseloff. Vor allem die Linke, damals noch PDS, habe das „in ständiger spalterischer Aktivität“ für sich genutzt und den Eindruck vermittelt, der Osten sei benachteiligt. Lebt die AfD nun davon? Und neuerdings das BSW?
Die Zeitenwende führt im Osten dazu, dass Sahra Wagenknecht die Landtagswahlen gerade enorm gewonnen hat.
Bodo Ramelow (Die Linke), geschäftsführender Ministerpräsident von Thüringen
Einen Grund für den Erfolg des BSW sieht Thüringens geschäftsführender Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) darin, dass Ostdeutschland anders auf den Ukrainekrieg blicke als Westdeutschland. In einer Podiumsdiskussion mit dem stellvertretenden polnischen Außenminister Marek Prawda, der ebenfalls an der Konferenz teilnahm, sprach Ramelow von einer „innerdeutschen Wahrnehmungsgrenze“.
„Die Zeitenwende führt im Osten dazu, dass Sahra Wagenknecht die Landtagswahlen gerade enorm gewonnen hat“, sagte Ramelow. Das seien auch Stimmen, die er durch seine klare Positionierung nicht mehr habe einsammeln können. An Politiker, die sich als links definieren, formulierte Ramelow den Wunsch, „dass sie Imperialismus, Chauvinismus und Militarismus erkennen“.

© Marie Staggat für den Tagesspiegel
Manuela Schwesig, die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, wies auf etwas hin, was auch Schneider und Haseloff ansprachen. Im Jahrzehnt nach der Wendezeit habe die „Einheit auf Augenhöhe nicht ausreichend stattgefunden“. Danach aber, das betonte Schneider, habe sich der Osten seinen Aufschwung und seinen Wohlstand erarbeitet. „Der Weg dahin war steinig“, sagte der Thüringer Politiker und sprach von einem „Ost-Stolz“ auf diese Leistung.
„Mehrheit wählt demokratisch“
Laut Schwesig reagiert der Osten deswegen aber auch sensibler, wenn es der Wirtschaft nicht gutgeht. Die Furcht, dass das, was man in den letzten drei Jahrzehnten erarbeitet hat, wieder zusammenbricht, sei größer.
Aber im Osten gebe es eben nicht nur AfD-Wähler, die Mehrheit wähle demokratisch, und zumindest ein Teil der Wählerschaft der Rechtspopulisten lasse sich zurückgewinnen, da ist sich Schwesig sicher. Zweierlei aber stärke die Partei gerade: Zum einen der ständige Streit in der Ampel-Koalition, zum anderen der Versuch der CDU, die AfD teils rechts überholen zu wollen.
„Demokratie braucht Bündnisse“
Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) warnte: Wenn Demokratie unter Druck gerate, sei das auch auf wirtschaftlicher Ebene ein Problem. Nicht zuletzt der Osten sei angewiesen auf Investoren und Fachkräfte. Der Einsatz für Demokratie brauche breite Bündnisse: Kirche, Kultur, Wissenschaft, Sport, Wirtschaft, Zivilgesellschaft.
Wir waren uns einig, wogegen wir waren, aber wofür wir waren, hätten wir nicht beschreiben können.
Marianne Birthler, spätere Leiterin der Stasiunterlagen-Behörde, über die Demonstration im Herbst 1989
Wie aber gelang der Übergang von der Diktatur zur Demokratie im Herbst 1989? Drei Zeitzeugen saßen dazu auf dem von Robert Ide moderierten Tagesspiegel-Podium, allesamt Redner auf der legendären Demo am 4. November 1989 in Berlin: Marianne Birthler, die spätere Leiterin der Stasiunterlagen-Behörde, Konrad Elmer-Herzig, Mitbegründer der Ost-SPD, und der Psychologe Ronald Freytag.
Für Elmer-Herzig bedeutete die Massen-Demonstration die Entmachtung der SED. „Das Alte war nicht mehr da und das Neue noch nicht“, beschrieb Birthler die Situation. „Wir waren uns einig, wogegen wir waren, aber wofür wir waren, hätten wir nicht beschreiben können.“ Aber die Mehrheit der Ostdeutschen, also der DDR-Bürger, habe schon vorher Richtung Westen geschaut.
Die dann sehr schnell umgesetzte Vereinigung war der Wunsch dieser Mehrheit. Die damalige Stimmung, die Schneider sich als Inspiration zurückwünscht, brachte ein kleiner Wortwechsel gut auf den Punkt. „Wir waren alle überfordert damals“, erinnerte sich Elmer-Herzig. „Aber auf eine sehr angenehme Weise“, ergänzte Birthler.
Hinweis: Die Veranstaltung „Der Osten“ wird unterstützt von externen Partnern: Berlin-Chemie Menarini, die Bundeszentrale für politische Bildung, die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die enviaM-Gruppe, der Ostdeutsche Sparkassenverband, die Sächsische Agentur für Strukturentwicklung GmbH, die ZEIT STIFTUNG BUCERIUS, Civey, rbb24 Inforadio, Rotkäppchen, VBKI, Netzwerk 3. Generation Ost, Stiftung Bürger für Bürger, Denkraum Ost und die Gemeinschaftsinitiative Zukunftswege Ost.
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