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Sigmar Gabriel spricht als Vorsitzender des Vereins Atlantik-Brücke bei dem Festakt anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung des Vereins.

© dpa/Carsten Koall

Update

„Über die oben lässt sich schwerer herziehen“: Nach Kritik am Bürgergeld – Gabriel wettert gegen Reiche

In Deutschland gibt es zu viele junge Erwachsene, die nicht arbeiten: Zwei Ex-Chefs der Arbeitsagentur sehen große Probleme beim Bürgergeld – so auch der frühere SPD-Chef. Gabriel geht mit seiner Kritik noch weiter.

Stand:

Die Debatte über die staatlichen Sozialleistungen in Deutschland wird heftig geführt, insbesondere das Bürgergeld steht dabei im Vordergrund. Die früheren Vorstandsmitglieder der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-Jürgen Weise und Heinrich Alt, beklagen schwerwiegende Probleme beim Bürgergeld.

„Es gibt in Deutschland 260.000 junge Menschen zwischen 25 und 45, die seit längerer Zeit nicht arbeiten, obwohl sie alle Kriterien für Erwerbstätigkeit erfüllen“, sagt Weise dem „Spiegel“. „Das ist in dieser Dimension nicht hinnehmbar.“ Weise war von 2004 bis 2017 Chef der Bundesagentur für Arbeit.

Dem stimmt auch der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel zu: „Ich befürchte, er hat recht“, schrieb Gabriel am Samstag auf X. Doch Gabriel beließ es nicht dabei und kritisierte im gleichen Tweet junge Erwachsene, die mit dem Geld ihrer Eltern nicht oder weniger als in Vollzeit arbeiten: „Und wer wohlhabend ist, macht auf Kosten von Mama und Papa nach der Schule erst mal ein ‚Sabbatical‘ und danach eine Vier-Tage-Woche …“

Gabriel resümierte, es wollten immer weniger Menschen etwas leisten, unabhängig von ihrem sozioökonomischen Status. „Nur über die oben lässt sich schwerer herziehen“, schrieb Gabriel.

Andere User sowie Politiker von Union und FDP kritisierten den SPD-Politiker für diesen Vergleich. Schließlich würde das Bürgergeld über die Sozialversicherungsbeiträge der Allgemeinheit finanziert, während in Gabriels Beispiel, Eltern mit ihrem Geld dafür aufkämen.

Das System ist völlig intransparent. Es ist nicht mehr steuerbar.

Frank-Jürgen Weise, von 2004 bis 2017 Chef der Bundesagentur für Arbeit

Ex-Arbeitsagenturchef Weise ging mit seiner Kritik zudem noch etwas weiter. „Die Jobcenter sind wie gelähmt von Bürokratie“, sagte Weise dem „Spiegel“. „Das System ist völlig intransparent. Es ist nicht mehr steuerbar.“ Gemeinsam mit Alt schlage er vor, die Jobcenter zu entlasten.

Alt, der zwischen 2002 und 2015 im Vorstand der Bundesagentur war, sagte, das Bürgergeld habe „ein Akzeptanzproblem“. Wer arbeite, aber wenig verdiene, frage sich: „Was bekommt ein Bürgergeld-Empfänger? Was bekomme ich?“

Der Vergleich, sagte Alt, sei für viele deprimierend. Zwischen 2021 und 2024 hätten Langzeitarbeitslose 26 Prozent mehr bekommen, die Löhne seien in dieser Zeit aber nur um knapp zwölf Prozent gestiegen. Die Preise dagegen seien um 17 Prozent nach oben geschnellt.

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Arlt aus Mecklenburg-Vorpommern sieht ebenfalls die Akzeptanz des Bürgergelds in Gefahr. „Keiner versteht, warum jemand, der bei Sonnenaufgang ins Bett geht und den ganzen Tag auf dem Sofa liegt, nur etwas weniger haben soll als einer, der zur gleichen Zeit in den Schweinestall arbeiten geht“, sagte Arlt dem Blatt. „Heute werfen mir meine Wähler vor, dass wir Faulheit tolerieren, obwohl überall Arbeitskräfte gesucht werden.“

Es gebe einen harten Kern von Langzeitarbeitslosen in seinem Wahlkreis, sagte Arlt. „Die wollen nicht arbeiten und sagen offen: Jetzt stört mich keiner mehr vom Amt.“ Arlt hofft, dass seine Partei umsteuert. Er sagt: „Wir sind nicht die Partei der Arbeitslosen, sondern die Partei der Arbeit.“ Auf die Frage, womit sie anfangen sollte, antwortete er: „Der Name führt in die Irre.“ Er hätte kein Problem damit, ihn wieder zu ändern.

SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich stellte am Wochenende Änderungen an den Plänen der Ampelkoalition zur Reform des Bürgergelds in Aussicht. „Was wir im Bundestag zum Bürgergeld beschließen, wird mehr und anderes umfassen, als die Regierung vorgeschlagen hat“, sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Konkret wurde er dabei nicht.

5,6
Millionen Menschen hatten Ende Juni Anspruch auf Bürgergeld.

Die Bundesregierung will mit schärferen Regeln mehr Bezieher von Bürgergeld zur Aufnahme einer Arbeit bewegen. So soll künftig ein längerer Weg zur Arbeit zumutbar sein, das Ablehnen einer zumutbaren Arbeit mit erhöhten Leistungskürzungen geahndet werden und auch Schwarzarbeit zu Kürzungen führen. Diese und weitere Maßnahmen sind Bestandteil der sogenannten Wachstumsinitiative der Bundesregierung, die vor allem dazu dienen soll, die lahmende Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen.

CSU fordert Sozialhilfe statt Bürgergeld

Mützenich sagte: „Das Bürgergeld wird nicht abgeschafft, sondern fortentwickelt.“ Es gehe vor allem darum, mehr Menschen in Arbeit zu bringen. „Dazu braucht es sinnvolle Maßnahmen, um die Integration in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen, und eine maßvolle Sanktionstreppe.“ Man werde das, was die Bundesregierung zum Bürgergeld einbringt, „mit eigener Expertise und mit Sachverständigen beleuchten“.

Die CSU erneuerte ihre grundlegende Kritik am Bürgergeld. „Die angekündigten Änderungen am Bürgergeld sind ein Schuldeingeständnis der SPD, dass das Bürgergeld gescheitert ist und die Menschen vom Arbeiten abhält“, sagte Generalsekretär Martin Huber der Deutschen Presse-Agentur. Das Bürgergeld spalte das Land. „Die permanenten Reförmchen des Bürgergelds reichen bei Weitem nicht aus, es muss abgeschafft werden und stattdessen gehört die alte Sozialhilfe zurück“, forderte Huber.

Ende Juni gab es nach Angaben der BA rund 5,6 Millionen leistungsberechtigte Erwachsene und Kinder, davon gelten 3,9 Millionen als erwerbsfähig. Unter den Beziehern sind auch viele sogenannte Aufstocker, also Menschen, die arbeiten. Geflüchteten aus der Ukraine steht das Bürgergeld sofort zu, anders als anderen Schutzsuchenden.

Im vergangenen Jahr wurde der Regelsatz bei rund 0,4 Prozent der erwerbsfähigen Bürgergeldbezieherinnen und -bezieher wegen der Ablehnung von Arbeitsangeboten gekürzt. Die Sanktionen erfolgen stufenweise: Bei wiederholten Verstößen gleich welcher Art wird das Bürgergeld schrittweise um bis zu 30 Prozent gekürzt.

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales schreibt auf seiner Webseitedie Lebensumstände der Bürgergeld-Empfänger seien vielfältig. Viele pflegten Angehörige, besuchten Sprachkurse, holten eine Ausbildung nach, seien alleinerziehend oder chronisch erkrankt. „Weniger als die Hälfte der erwerbsfähigen Bürgergeld­beziehenden sind überhaupt arbeitslos, und hiervon wiederum verweigern nur einige wenige nachhaltig die Aufnahme einer Arbeit.“

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