zum Hauptinhalt

Politik: Unheilige Hirten

Am Ostersonntag kam es zum Eklat. Lautstarke Tumulte im Festgottesdienst in der Heiligkreuz-Kathedrale von Boston, Kirchenbesucher unterbrachen die Liturgie von Kardinal Bernard Law und forderten dessen Rücktritt.

Am Ostersonntag kam es zum Eklat. Lautstarke Tumulte im Festgottesdienst in der Heiligkreuz-Kathedrale von Boston, Kirchenbesucher unterbrachen die Liturgie von Kardinal Bernard Law und forderten dessen Rücktritt. Sie warfen ihm vor, jahrelang den Kindesmissbrauch durch Priester seiner Diözese vertuscht zu haben. Sie hielten Plakate hoch mit Parolen wie "Haus der Vergewaltigung". Während der Chor eine Hymne sang, rief ein Mann immer wieder: "Boykott!" Doch der Erzbischof zeigte sich äußerlich unbeirrt, legte in seiner Predigt das Evangelium aus. Auf die Vorwürfe ging er mit keinem Wort ein.

Das tat stattdessen sein oberster Dienstherr, Papst Johannes Paul II. und sprach von "schlimmsten Ausformungen des Bösen" und "schwerwiegenden Skandalen". In einem Brief an die 400 000 Priester in aller Welt zeigt er sich "zutiefst erschüttert" über die "Sünden einiger unserer Mitbrüder, welche die Gnade des Weihesakramentes verraten haben". USA, Australien, Irland, Frankreich, England, Österreich, Schweiz, Polen und Deutschland - es gibt kaum ein westliches Land, dessen katholische Ortskirche nicht betroffen ist.

Im Mittelpunkt der Bostoner Affäre steht der Priester John Geoghan. Er wird beschuldigt, rund 130 Kinder sexuell misshandelt zu haben, ohne dass Kardinal Law einschritt. Der 66-Jährige wurde zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Auf Druck der Öffentlichkeit hat das Erzbistum inzwischen der Staatsanwaltschaft eine Liste mit Namen von etwa 80 weiteren Priestern zugeleitet, denen sexuelle Gewalt an Kindern vorgeworfen wird. Das sind rund vier Prozent der 2000 Geistlichen des Bistums.

Auf etwa zwei bis vier Prozent schätzt der Psychologe Wunibald Müller - Leiter des Recollectio-Hauses Münsterschwarzach und seit Jahren mit dem Thema befasst - die Zahl der Priester, die Kinder oder Jugendliche sexuell missbrauchen. In den Augen des Experten dürften sich die deutschen Ziffern nicht grundlegend von den amerikanischen unterscheiden. Jenseits des Atlantik stehen mittlerweile rund 2000 Priester unter Verdacht. Unter den 17 400 deutschen Klerikern gibt es nach Müllers Schätzung wohl 350 bis 700 schwarze Schafe. Anders als in den USA ist die Zahl der bekanntgewordenen Fälle jedoch verschwindend gering. In den vergangenen drei Jahren wurden nach inoffiziellen Schätzungen etwa ein dutzend Kleriker bei den Bistümern angezeigt. Die Bischofskonferenz hat keinen Überblick. Und niemand weiß, wie viele der Täter den Staatsanwaltschaften gemeldet wurden.

Das weltweit zutage getretene Ausmaß sexueller Verfehlungen von katholischen Geistlichen ist so groß, dass das amerikanische Nachrichtenmagazin Time dieser Krise eine Titelgeschichte widmete. Die Erzdiözese Boston ist mittlerweile zur Zahlung über dreißig Millionen Dollar an die Opfer bereit. Nach Schätzungen von Time - gestützt auf Berechnungen der Opfer-Selbsthilfe-Organisation "Linkup" in Chicago - hat die katholische Kirche in den USA in den vergangenen 20 Jahren eine Milliarde Dollar an Entschädigungen gezahlt. Auch andere Kirchen haben hohe Summen an Missbrauchopfer überwiesen. Die irischen Ordensgemeinschaften stellten Ende Januar 128 Millionen Euro bereit.

Laut Müller ist der Umgang der deutschen Kirche mit Kindesmissbrauch seit Anfang der 90er Jahre "bedeutend sensibler" geworden. Auch wird die seit Mitte 2001 eingeführte Meldepflicht zum Vatikan von den 27 Ortsbischöfen "offenbar strikt eingehalten". Erstmals will sich die Bischofskonferenz nun am 22. April in Würzburg mit dem heißen Eisen befassen. Bislang fehlen Richtlinien im Umgang mit solchen Fällen und "es stellt sich die Frage, ob Korrekturen notwendig sind", heißt es von Seiten der deutschen Kirchenspitze. Andere Ortskirchen wie England oder die Niederlande, sind weiter. Dort haben Kommissionen Vorgaben entwickelt, die alle der Leitlinie "keine Toleranz" folgen. Das Aufdecken von Kindesmissbrauch, so die implizite Botschaft der Texte, hat nichts zu tun mit mangelnder Loyalität zur Kirche. Es ist in ihrem Interesse.

Zur Startseite