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Ulrike Liedtke zum Tag der Deutschen Einheit: „Der Osten ist Vorbild und Labor des Wandels für die Demokratie in ganz Deutschland“
Am Tag der Deutschen sprach Brandenburgs Landtagspräsidentin Ulrike Liedtke (SPD) im Brandenburger Dom. Die Rede im Wortlaut.
Stand:
„In dir ist Freude“, BWV 615, spielte Marcell Fladerer-Armbrecht eingangs an der gut 300-jährigen Orgel von Joachim Wagner, eine besondere Orgel, kaum umgebaut, authentisch, gut gepflegt von der Familie Schuke über Generationen hinweg.
Freude, Authentizität, Wertvolles pflegen, generationsübergreifend.
„In dir ist Freude“ aus Bachs Orgelbüchlein sollte eigentlich „auf allerhand Art einen Choral durchführen“ in der Ordnung des Kirchenjahres. „In dir ist Freude in allem Leide“,das ließ sich nicht in einer schlichten Choralbearbeitung abhandeln, es wurde eine Fantasie, FREUDE, kanonisch in den drei Oberstimmen geführt, das Pedal begleitet mit ostinatem Bass.
Komplex. Als wäre es für uns heute komponiert!
Freude über die deutsche Einheit, über modern strahlende Städtefassaden, blank geputzte Dörfer, ausgebaute Straßen- und Schienenwege, ostdeutsche Unternehmen als Weltmarktführer – Orafol mit Folien und Klebeband in Oranienburg; Ch. Miethke mit medizinischen Implantaten in Potsdam, Cemex-Beton in Rüdersdorf.
Freude über die Möglichkeit persönlicher Entwicklung ohne diktatorische Auflagen, ohne Staatspartei, ohne Ideologie. Die Menschen haben fast alle Arbeit und können ihren Alltag bestreiten. Auf Nachfrage geht es ihnen gut. Ich betrachte noch immer die deutsche Einheit als ein Wunder, ein menschengemachtes Wunder, die friedliche Revolution der Ostdeutschen.
Als Landtagspräsidentin nehme ich an den Einheitsfeiern teil – heute komme ich direkt aus Schwerin – gut vorbereitete Veranstaltungen mit besten Musikerensembles, eindrucksvollen Reden. Aber wenn die Bilder vom 9. November 1989 auf einer Videoleinwand gezeigt werden, laufen mir die Tränen. Jedes Mal. Ich kann es nicht wirklich erklären, außer dass es Freude ist, einfach Freude.
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Eine unglaubliche Chance! Und Veränderung in allen Bereichen des Lebens, angefangen mit persönlichen Papieren, Kindergarten und Schule, Arbeit, Krankenkasse, Versicherungen, einfach alles. Vereinsmeierei wollten wir nicht und gründeten Vereine. Unternehmen rappelten sich oder gingen in Konzernen auf, Verluste gab es viele. Kultureinrichtungen wurden in neuen Trägerschaften gesichert, der Netzausbau ist auf dem Wege, die Rentenwerte wurden eher angeglichen als vorgesehen.
Weil Lehrer fehlen, werden sie ab Semesterbeginn in Senftenberg dual ausgebildet, weil Ärzte fehlen, entsteht die staatliche Medizinerausbildung in Cottbus. Was hätte alles schiefgehen können beim Strukturwandel in der Lausitz – rund 100 Maßnahmen für 20 Milliarden Euro von Bund und EU werden umgesetzt, das ICE-Bahnwerk gehört dazu.
Junge Menschen ziehen in die Universitätsstädte, Bundeseinrichtungen siedeln sich an – jüngst die Außenstelle Auswärtiges Amt in Brandenburg/Havel (2021), die Familienkasse in Magdeburg (2022), die Generalzolldirektion in Erfurt (2023), 2028 soll das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation in Halle seine Arbeit aufnehmen.
Die demokratische Kultur ist – bei allen Unterschieden – in Ost und West vergleichbar. Selbst die Stasi-Unterlagen im Bundesarchiv sind Teil der gesamtdeutschen Geschichte, nicht allein der ostdeutschen.
„In dir ist Freude.“
Aber auch Unzufriedenheit, Enttäuschung, Minderwertigkeit, Wut, sogar Hass. Das sind Gefühle, für die kann man nichts. Anders ist es mit Haltungen: Die da oben entscheiden alleine über Krieg oder Frieden, Maulkorb oder Meinung, Auf oder Abstieg. So stand es in den letzten Wochen auf Plakaten. Schwarz oder weiß. So ist das Leben nicht.
Ich freue mich über das Ergebnis der Landtagswahl in Brandenburg und zugleich leide ich daran. Die meisten Menschen in Brandenburg denken demokratisch. Das beruhigt. Sie bilden keine komfortable Mehrheit, aber sie sind mehr.
Dennoch geht ein Riss durch diese Gesellschaft. Unsere gemeinsame Aufgabe wird es sein, einander zuzuhören, zu einigen, wo möglich auch zu versöhnen. Dazu muss keine Brandmauer eingerissen werden, Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus sind nicht weniger abscheulich als vor der Wahl. Aber nicht alle Anhänger populistischer Organisationen sind rechtsextrem, rassistisch, antisemitisch.
Kein Ostdeutscher wäre auf den Begriff einer Mauer gekommen
Und außerdem wäre kein Ostdeutscher auf den Begriff einer Mauer gekommen, Mauer geht im Osten nicht. Das Wahlergebnis ist ernst zu nehmen, die Wählenden wollen ernst genommen werden, alle, die gewählt haben. Wir müssen Formen des Miteinanders finden, streitbar, unnachgiebig, wo es sein muss, politisch gegenhalten, Feinden der Demokratie eine klare Kante zeigen, aber als Menschen miteinander.
Kindergrundsicherung, Mindestlohnerhöhung, Bürgergeld, Tarifbindung, Emanzipation von Frauen, die Arbeit des Landesjugendrings – wer das abschaffen will, schadet doch seiner eigenen Klientel, die es aber – leider – noch nicht erkennt.
Was kann man tun? Gute Politik machen. Im Kleinen wie im Großen. Demokratie buchstabieren, das ist nichts Abstraktes, nichts Diktiertes. Also reden, in der Schule, im Betrieb, mit Nachbarn, im Verein, am Küchentisch. Die altbewährten Jugendaustausche organisieren, die den Horizont weiten und unvergessen bleiben. Und Meta-Themen setzen, ihnen nicht ausweichen und zugleich deutlich machen, dass es tatsächlich Meta-Themen sind: Frieden, Flucht, Vertreibung, Migration, auch Klimaschutz. Nicht von heute auf morgen zu bewältigen. Kommunen, Land, Bund, Europa – alle sind sie dabei Partner.
Ein Teil der Wahlplakate versprach schnelle Lösungen, die es nicht gibt. Das Friedensthema beeinflusste die Wahl am meisten. Meine Mutter verband mit dem Wunsch nach Frieden eine große Angst, auch ein Gefühl, die Angst, dass Politiker an der Macht sein könnten, die keinen Krieg mehr erlebt hätten. Sie hat das so oft gesagt, dass wir schon gar nicht mehr hinhörten. Ausgebombt in Berlin litt sie lebenslang unter ihrem Kindheits-Trauma. Der Wunsch nach Frieden zieht sich durch alle Zeiten. „Herr, gib uns Frieden gnädiglich.“ Bibel-online weist allein im Luthertext 1.912-mal das Wort Frieden aus. Der Herr wird angerufen, uns die Gnade zu erweisen, Frieden zu geben.
Offensichtlich gab es ihn nicht, als diese Zeilen entstanden. „Herr, gib uns Frieden gnädiglich.“ Nie wieder Krieg, das haben wir gelernt, gelebt und geglaubt. Normalzustand Frieden, als ob es keine Kriege auf der Welt gegeben hätte. Unsere Werte sind erschüttert worden:
- Du sollst nicht töten,
- Frieden schaffen ohne Waffen,
- für Schwerter zu Pflugscharen war ich in Leipzig auf der Straße.
Die Verheißung des Völkerfriedens. In einer Zeit, in der die Welt gerade viele Probleme gemeinsam zu lösen hätte, fallen wir zurück in Verhaltensmuster aus der Gewalt-Geschichte. Männer kämpfen, Frauen fliehen, Waffen werden geliefert, neue Gräber ausgehoben, Sterben für die Nation, die Nachrichtensprache rüstet auf.
Ein Angriff auf das Völkerrecht
Klar ist zugleich: Pazifismus muss man sich leisten können. Wer im Frieden lebt, braucht keinen Mut, um Pazifist zu sein. Der russische Angriff vom 24. Februar vor zwei Jahren richtet sich nicht nur gegen die Ukraine, sondern gegen das Völkerrecht, die internationale Gemeinschaft, die Zivilgesellschaft insgesamt, auch gegen die russische Verfassung, selbst gegen das russische Volk – letztlich gegen die Werte der Demokratie. Brecht schrieb: „Kein Vormarsch ist so schwer wie der zurück zur Vernunft.“
Die Unterstützung der Angegriffenen einerseits und die Diplomatie gewaltfreier Konfliktlösungen andererseits – das zerreißt das Gewissen. Innenminister sprechen vom Frieden in Freiheit. Hermann Kant stellt die Vernunft in Beziehung zu den Prinzipien Frieden und Freiheit. Befrage ich ostsozialisierte Menschen, so ist ihnen Frieden am wichtigsten. Wenn Frieden herrscht, wird sich alles andere regeln.
Ich denke, wir waren nachlässig im Umgang mit dem hohen Gut des Friedens, zu unentschlossen, wer zu Europa gehört und zu uninteressiert an den Problemen osteuropäischer Länder.
Ulrike Liedtke
Befrage ich westsozialisierte Menschen, so ist ihnen Freiheit am wichtigsten. Wenn Freiheit herrscht, wird Frieden sein. Die Frage ist unzulässig, denn was ist Frieden ohne Freiheit oder Freiheit ohne Frieden? Dennoch: Die Antworten fallen in Ost und West unterschiedlich aus. Das Meta-Thema Frieden überlagert die vielen kleinen und großen Ost-West-Probleme, es verschärft sie aber auch.
Ich denke, wir waren nachlässig im Umgang mit dem hohen Gut des Friedens, zu unentschlossen, wer zu Europa gehört und zu uninteressiert an den Problemen osteuropäischer Länder. Am Ende eines jeden Krieges stehen Verhandlungsergebnisse. Wir brauchen Ausstiegsszenarien, über die militärische Verteidigung hinaus. Kriege werden nicht gewonnen, sie müssen beendet werden. Wir hatten den Brecht doch gelesen, gar nicht schwer, Reclam, 20 Gramm.
Die Empfindung von Handlungsunfähigkeit führt zu Politikverdrossenheit. Vertrauen ist verloren gegangen,
Vertrauen in Institutionen, in Demokratie, sogar Vertrauen in Wissenschaft nach unterschiedlichen Einschätzungen zu Corona.
Politikverdrossenheit kann aber auch zu neuem Engagement führen. Jeder Demokrat wird gebraucht, im Dorf, in der Stadtverordnetenversammlung, im Kreistag, Landtag bis nach Europa, das auch nur helfen kann, wenn es stark ist.
Vor wenigen Tagen besuchte ich in der Bundeskunsthalle in Bonn eine Demokratie-Ausstellung. Abgesehen davon, dass gefühlte 80 Prozent der Beschreibungen von Ausstellungsgegenständen in englischer Sprache ausgewiesen waren, fragte ich mich, ob diese Ausstellung auch in Potsdam, Brandenburg an der Havel oder Cottbus präsentiert werden könnte. Nein, es würde nicht gelingen, die Geschichte der Demokratie aus westlicher, amerikanischer Sicht zu verbreiten.
Die Menschen aus dem Osten verfügen über ein Frühwarnsystem gegenüber Ideologie, gegenüber Bevormundung.
Ulrike Liedtke
Das große Ereignis im Osten ist und bleibt die friedliche Revolution von 89, die Selbstbefreiung aus einer Diktatur, dank Solidarnosz, dank geöffneter ungarischer Grenzen, dank Gorbatschow. Das ist eine andere Erzählung. Auch der Beitritt verdient differenzierte Betrachtung. Man tritt daneben oder drauf, aber niemals bei. Die Menschen aus dem Osten verfügen über ein Frühwarnsystem gegenüber Ideologie, gegenüber Bevormundung.
Sie haben Diktatur der DDR erlebt, bittere Entscheidungen über ihre Betriebe durch westliche Übernahmen, später Corona-Maßnahmen als diktatorisch empfunden und ein unsägliches Heizungsgesetz abgelehnt. Aktuell trifft sie die Medienschelte, weil der Osten anders wählt, weil er nicht wie WDR-Journalisten mit Amerika-Erfahrung denkt. Das ist nicht undemokratisch, das ist erlebte Erfahrung.
Das hält die Demokratie aus!
Das Eingeständnis von Fehlern gehört zur Demokratie dazu
Stellt sich die Frage, wie man aus diesem Vergangenheitsmuster herauskommt. Es ist nicht alles gut, was Politiker entscheiden und Regierungen tun. Das Eingeständnis von Fehlern gehört zur Demokratie dazu. Neben Kritik brauchen wir Aufklärung, politische Bildung, Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Gesellschaftssystemen und deren Auswirkungen auf Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur oder Sport. Mit meinen Trommelkursen bin ich als Musikerin gern gesehener Gast in den Schulen meiner Region. Mit meinem Deutsch-Arabischen Kindertheater konnte ich über Jahre hinweg mit fünf eigenen Stücken und rund 25 Kindern verschiedener Herkünfte in jährlich zehn Turnhallen spielen. Mit meinem Angebot einer Demokratiestunde durfte ich in gerade einmal zwei Schulen meiner Region unterrichten. Es könnten ja ebenso Vertreter extremer Parteien kommen! Aber doch nur, wenn man sie einlässt! Die Schule kann doch entscheiden, wer eine Stunde gestaltet!
Wir sollten es alle tun, Jeder und Jede von Ihnen, wir müssen in die Schulen, aus der Praxis berichten und darüber, wie wir Demokratie finden, nutzen und weiter entwickeln wollen! Und es gilt, zu analysieren, wie eine U16-Wahl so ausfallen konnte, wie sie ausgefallen ist, mit fast 50 Prozent Zustimmung für rechtsextremes Gedankengut. Analysieren, was in Social Media gelesen und geglaubt wird, wie es sein kann, dass sich nur ein einziges Meinungsbild vielfach viral verbreitet, weil andere Meinungsbilder auf dem Handy fehlen, oder schlicht nicht überzeugen. Wer sich nur in seine Blase einloggt, erhält keine anderen Denkansätze. Selbstkritik, Aufklärung und die Verbreitung politischer Werte – ein langer Weg ist das.
Meine Erfahrungen aus den letzten acht Wochen auf der Straße, vor Supermärkten und in Podiumsgesprächen hat gezeigt, dass Dialog oft gar nicht mehr möglich ist. Es braucht handfeste politische Ergebnisse, die nicht erst in ein paar Jahren wirken wie die Ausbildung dringend benötigter Lehrer oder Ärzte, sondern die sofort spürbar sind.
Es braucht besondere Aufmerksamkeit für den ländlichen Raum, wo der Rufbus zur Gewohnheit werden kann, weil es nur noch den Schulbus gibt, wo Musikschule, Seelsorger und Kino regelmäßig angerollt kommen, wo Kommunen den Tante-Emma-Laden mitfinanzieren, in dem vom Reiseroman bis zur Waschmaschine alles bestellt werden kann und wo man sich zum Kaffee im Nebenzimmer mit Spitzendeckchen trifft. Ganz wichtig, der Kaffee. Es braucht das Gefühl, dass sich etwas ändert, dass wir die Demokratie selbst sind, nicht nur die da oben,
und dass wir sie gestalten.
Auf dem Neuruppiner Marktplatz stand ein riesiger, stolzer Truck „75 Jahre Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.“ Im ersten Moment ertappte ich mich bei dem Gedanken, für 75 Jahre vereinnahmt zu werden, obwohl ich doch erst seit 34 Jahren auf dem Boden dieser Verfassung lebe. Das stimmt und ist ebenso unsinnig, denn ich feiere auch 859 Jahre Dom zu Brandenburg und rechne nicht heraus, wie viele Jahre davon in meine bewusst wahrgenommene Lebenszeit fallen.
Nach der friedlichen Revolution 1989 wurde das Grundgesetz am 3. Oktober 1990 zur gemeinsamen Verfassung des wiedervereinigten Deutschlands. Es wurde leidenschaftlich über ein gemeinsames Grundgesetz Ost und West debattiert, die Verabschiedung einer neuen Verfassung durch das gesamte deutsche Volk nach Artikel 146 GG. Auch die Hymne stand zur Disposition, Brechts „Anmut sparet nicht noch Mühe“ war – wie schon 1949 – vorgeschlagen worden. Der Text passt auf Haydns Melodie zu „Einigkeit und Recht und Freiheit“ ebenso wie auf Eislers „Auferstanden aus Ruinen.“
Eine klaffende Lücke
Ich kann mir gut vorstellen, dass im Ergebnis per Beschluss das alte Grundgesetz von vor 75 Jahren vorerst unverändert eingesetzt worden wäre. Aber es gab keinen Beschluss dazu. Es ist weniger das Gesetz als
Text als vielmehr die fehlende Freude darüber, eine solche Verfasstheit der Demokratie gemeinsam beschlossen zu haben.
Die Bereitschaft, für das Grundgesetz einzutreten, es zu verteidigen, ist nach einer aktuellen Studie von Mercator (Forum für Migration und Demokratie) stark ausgeprägt. Das sind gute Nachrichten. Das Bild, das die Studie zeichnet, gibt aber auch zu erkennen, dass nicht alle Prinzipien des Grundgesetzes als gleichermaßen umgesetzt gelten können.
Zwischen Verfassungsnorm und Verfassungsrealität klafft eine Lücke, besonders in den Fragen des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen und der Möglichkeiten direktdemokratischer Beteiligung. Im Grundgesetz ist der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen verankert (Artikel 20a), ebenso in der Brandenburger Landesverfassung (Artikel 39). Aber nur 29 Prozent der Deutschen sagen, der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen sei heute in Deutschland „sehr gut“ oder „eher gut“ umgesetzt. Das macht stutzig. Woran fehlt es?
Brandenburg ist Vorreiter beim Klimaschutz, etwa durch den zügigen Ausbau der erneuerbaren Energien. Brandenburg deckt heute rechnerisch 95 Prozent seines Stromverbrauchs aus erneuerbaren Energien. Und es gibt schon energieautarke Gemeinden. Feldheim zum Beispiel, Ortsteil von Treuenbrietzen. Das Dorf ist eine der wenigen energieautarken Gemeinden Deutschlands und stellt Strom und Wärme aus Wind- und Biogasanlagen her – kostengünstig und klimaneutral.
Feldheim hat die Klimawende geschafft. Feldheim könnte als Beispiel für einen Paradigmenwechsel dienen. Aber das Beispiel zeigt auch: Es gibt noch viel zu tun. Meta-Themen, so hoch sie auch über uns schweben, werden letztlich vor Ort entschieden. Klimaschutz, Artenvielfalt und gesunde Umwelt sind Ziele der „Potsdamer Erklärung“, unterschrieben von 46 Staaten im Kongress der Gemeinden und Regionen Europas auf meine
Initiative im Landtag.
Wir setzen sie um vor Ort, in den Regionen, in den Dörfern und Städten. Seit Greta Thunberg dachte ich, die junge Generation habe ihr Lebensthema gefunden – den Klimaschutz. So wie meine Generation die deutsche Einheit immer als ihr Thema verstehen wird. Aber das Menschheitsthema Klimaschutz verbindet sich nicht mehr mit den Grünen. Eine einzelne Partei reicht auch nicht aus, ein so großes Thema zu fassen.
Das international renommierte Klimafolgenforschungsinstitut befindet sich unweit von hier inPotsdam. Wer auch nur einen kurzen Vortrag von Ottmar Edenhofer hört, versteht, dass wir die globale Erwärmung auf weniger als zwei Grad begrenzen müssen. Jeder und Jede sind dafür selbst verantwortlich.
Viel zu tun gibt es auch bei den Möglichkeiten direktdemokratischer Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Nur 31 Prozent der Befragten sind der Auffassung, die Möglichkeiten direktdemokratischer Beteiligung seien „sehr gut“ oder „eher gut“ umgesetzt. Auch hier die Frage: Woran liegt es? Die Bundestagspräsidentin setzt Bürgerräte ein – ich finde: mit großem Erfolg, weil die Räte Forderungen stellen, ohne Wenn und Aber, ohne detaillierte juristische Kenntnisse, ohne die Umsetzung konkret beschreiben zu müssen.
Die Einrichtung von Bürgerräten nicht nur im Bund, sondern auch auf der Ebene der Landesparlamente wäre ein
nächster Schritt. Bürgerräte setzen sich aus per Zufallsgenerator ermittelten Bürgerinnen und Bürgern verschiedener Alters- und Berufsgruppen zusammen, die zu Fragen des Parlaments Empfehlungen abgeben. Wenn die Empfehlungen das Parlament überzeugen, werden Wege der Umsetzung erörtert. Die Mitglieder des Bürgerrates sind Teil der Demokratie und – so hoffe ich – stolz darauf, es zu sein. Bürgerräte könnten in der Verfassung verankert werden, Klimaschutz, Artenvielfalt, gesunde Umwelt ebenso.
Das Staatsziel Kultur fehlt noch immer in der Verfassung, zumal all die Wandel, Reformen und Neuorientierung der aktuellen Zeit in einen großen Kulturwandel münden. Wenn ich unser Miteinander als unsere Kultur betrachte, müssen wir gegenwärtig zurechtkommen mit Klimawandel, Energiewende, Schule neu denken, Transformationsprozess Lausitz, Mobilitätswende, Krankenhausreform, mit demografischem Wandel und, und, und – alles Veränderungen, die den einzelnen Menschen überfordern.
Es fehlt noch mehr: Sorben und Wenden sind in Deutschland als nationale Minderheit anerkannt, mit eigener Sprache, offiziell anerkannter Flagge und Hymne. Seit 1990 verfügt Deutschland über eine lange Grenze zu Polen, Nachbarn sind dazu gekommen. Ostthemen, nichts davon im Grundgesetz. Und trotzdem ist es eine großartige Grundlage unseres Miteinanders, unserer Kultur.
Ich freue mich, in einem toleranten, weltoffenen und vielfältigen Brandenburg leben zu dürfen. Das passt zur Geschichte des Landes, vom Brandenburgischen Toleranzedikt von 1664 bis heute. Parteistrategen empfehlen, das Thema Migration auszusparen, weil man damit nicht gewinnen könne. Doch, denn jeder integrierte Mensch ist ein Gewinn für Brandenburg.
Ich freue mich, in einem toleranten, weltoffenen und vielfältigen Brandenburg leben zu dürfen.
Ulrike Liedtke
Laut zuständigem Ministerium beträgt der Anteil von Geflüchteten und Geduldeten an der Gesamtbevölkerung Brandenburgs im letzten Jahr 2,3 Prozent. Herkunftsländer sind überwiegend Ukraine, Polen, Syrien, Russland und Afghanistan. Migration gelingt nicht von alleine, sie braucht Arbeitsorganisation, Regeln und Unterstützung. Auch dieses Thema – europäisch zu koordinieren, auf nationaler Ebene gesetzlich zu regeln, im Landtag konkret durch Hilfsangebote zu unterstützen – muss letztendlich vor Ort bewältigt werden.
Der Landtag Brandenburg ist ein offenes Haus, zugänglich für Jedermann, ohne Röntgengeräte wie auf Flughäfen. Plenum und Ausschuss-Sitzungen sind öffentlich und werden live übertragen, können auch später nachgeschaut werden. Ausstellungen, Podiumsgespräche und Musik laden zum Verbleib ein. Für die Arbeit der neuen Abgeordneten im Landtag werden wir ein konstruktives Miteinander brauchen, Respekt, auch mehr Gelassenheit. Aus meiner Sicht hat sich das Streitverfahren zwischen Opposition und Koalition überlebt.
Man braucht den Zusammenhalt in der Koalition, um etwas durchzubringen, aber es gibt auch sinnvolle Anträge, die alle Abgeordneten gemeinsam beschließen könnten. Generelle Ausgrenzung macht den Ausgegrenzten stark. Hier ist Politikwissenschaft gefragt, neue demokratische Verfahren vorzuschlagen, passend für heute, für die konkrete Situation der Demokratie.
Ich freue mich über die Haltung meiner Kirche, die dazu aufgerufen hat, demokratische Parteien zu wählen. Sie verlässt gerade den geschützten Raum dicker Mauern, der auch mir Geborgenheit gibt, und geht auf die Straße, zu den Menschen, in den offenen Raum. Das Freudige wollte ich herausarbeiten und komme nicht umhin, den Anteil Ostdeutscher in Führungspositionen zu beklagen, Sie kennen die Zahlen. Das ärgert mich, auch weil ich selbst an Musikhochschulen und jetzt an der Universität Potsdam so viele begabte und kluge junge Menschen ein Stück ihres Weges begleiten durfte.
Wo sind sie, wenn gut dotierte Kulturstellen besetzt werden? Der Ostbeauftragte – schlimm genug, dass es ihn geben muss – stellt in seinem gerade erschienenen Bericht fest, dass seit 2018 in der Wirtschaft die Hälfte der Positionen aus Altersgründen neu besetzt wurde, sich der Anteil der Ostdeutschen aber nicht erhöhte. Das habe eine ungleiche Teilhabe an Demokratie zur Folge.
Das lässt sich ändern, um ostdeutsche Perspektiven und Erfahrungen einfließen zu lassen. So betrachtet ist der Osten ein Vorreiter für Veränderungen, die über kurz oder lang auch westdeutsche Regionen betreffen können. Es liegt an uns und unseren Kindern, Zukunft zu gestalten, in der wir leben wollen. Mit Freude, Authentizität, dabei Wertvolles pflegen, generationsübergreifend. Demokratie stärken.
Es geht nicht um die Angleichung ost- und westdeutscher Lebensverhältnisse, auch wenn das ab und an wehtut, wegen der versprochenen blühenden Landschaften. Es geht um den eigenen Weg im Osten, in Brandenburg. Und – ganz wichtig – es geht um Augenhöhe im gesamtdeutschen Miteinander. Ich bin davon überzeugt, dass Demokratie durch gemeinsames Arbeiten, Leben, Feiern, auch Singen und Musizieren gestärkt wird. Deutschland gehört zu Europa und hat als Land im Herzen des Kontinents eine wichtige Rolle für Frieden, Ausgleich und Zusammenarbeit.
Wir sollten sie annehmen und zuversichtlich gestalten. Der Osten ist Vorbild und Labor des Wandels für die Demokratie in ganz Deutschland. Auf der Schlossfreiheit in Berlin soll die „Einheitswippe“ als Freiheits- und Einheitsdenkmal entstehen. Die Bauarbeiten kommen nicht recht voran, die beauftragte Firma ging in
Insolvenz. Das ist fast schon ein Symbol für die aktuelle Situation. Die „Einheitswippe“ muss kommen, sie ist wichtig. Und für die Eröffnung schlage ich vor: „In dir ist Freude.“
Eine Orgel wird es auf dem Einheitsplatz nicht geben. Aber alle Choristen unter Ihnen kennen diese Melodie, ursprünglich von Giovanni Giacomo Gastoldi. Der Mailänder Domkapellmeister veröffentlichte sie 1591 in Venedig als Liebeslied in einer Sammlung aus Ballettmelodien zum Singen, Spielen und Tanzen als fünfstimmigen Satz, Dreivierteltakt. Die Melodie zog mit geistlichem Text unter Nr. 398 in das evangelische Gesangbuch ein. Im 20. Jahrhundert wurde sie erneut umgetextet als Liebeslied: „An hellen Tagen, Herz welch ein Schlagen.“
Der Tag der deutschen Einheit ist ein heller Tag, der die Herzen schlagen lässt. „In dir ist Freude“!
Vielen Dank
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