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Der Marco Odermatt der DDR: Die unglaubliche Geschichte eines fast vergessenen Ski-Alpin-Stars
Eberhard Riedel ist der einzige ostdeutsche Ski-Weltcup-Sieger. Auch den Staatsratsvorsitzenden brachte er ins Rutschen – und wurde später eiskalt abserviert. Doch auch mit knapp 90 schnallt er sich noch die Bretter an.
Stand:
„Zur Hälfte der Strecke hatte ich die zweitbeste Zwischenzeit, und dann kamen solche Wände von aufgefahrenem Neuschnee, 30, 40 Zentimeter hoch, in den Bögen, wo es am schnellsten war, und an dem zweiten Bogen hat es mich dann zerrissen.“
Der Sturz bei der Olympia-Abfahrt 1968 in Grenoble war einer der vielen Stürze des Eberhard Riedel. Aber es war der folgenreichste – und der letzte in einem großen internationalen Rennen. Riedel brach sich, mal wieder, keine Knochen. Aber für ihn brach danach die Welt zusammen. Seine Karriere als Kader-Leistungssportler endete wenig später, und das alles andere als freiwillig. „Ich habe mir danach drei oder vier Jahre lang kein einziges Rennen angesehen, ich konnte nicht, es tat zu weh.“
Eberhard Riedel sitzt Ende Januar 2025 in einem Café in Oberwiesenthal. Draußen liegt nur ein bisschen Schnee, aber der zwei Gehminuten entfernte Hang am Fichtelberg im Erzgebirge ist gut präpariert und wimmelt von Skifahrerinnen, Snowboardern und Kindern, die beides von den Coaches der örtlichen Skischule beigebracht bekommen. Mittelgebirge, keine alpinen Verhältnisse. Aber vor 60 Jahren trainierte hier eine Mannschaft, die es mit den Größten des alpinen Skizirkus aufnehmen konnte. Ihr Star war Riedel, der am 14. Februar 87 Jahre alt wird.
Dass es jene Mannschaft, der jemand vor langer Zeit einmal den Namen „Das Wunder vom Fichtelberg“ anheftete, überhaupt gab, weiß heute, außer in und um Oberwiesenthal, kaum noch jemand. Voll integriert in das internationale Wettkampfgeschehen war sie ohnehin nie. Man konnte nur an einigen wenigen Rennen teilnehmen, vor allem in Nicht-Nato-Ländern wie Österreich und der Schweiz. Geld gab es nicht viel, dafür umso mehr Angst der Offiziellen, dass sich jemand in den Westen absetzen könnte.
Die Wunderfahrer aus dem Erzgebirge
Riedel sagt, daran habe er nie gedacht. Zu stark sei die Heimatverbundenheit gewesen. Und ein paar – die guten – Jahre war diese eben auch gepaart mit Stolz, neben dem kleinen Erzgebirge auch die kleine DDR zu repräsentieren.
Hätte ich von den Rennen, die Jean-Claude Killy in einer Saison fuhr, nur zwei Drittel gehabt, wäre ich Olympiasieger geworden.
Eberhard Riedel über die Beschränkungen des DDR-Teams im Ski-Zirkus vor 60 Jahren.
Gegen alle Wahrscheinlichkeit und vielen Einschränkungen trotzend hatte der Trainer Joachim Loos – „ein Sportlehrer, ein Psychologe und ein Visionär, der seiner Zeit weit voraus war“, sagt Riedel – dort ein Männer-Team aufgebaut. Es konnte mit Franzosen, Italienern, Schweizern, Österreichern – und Westdeutschen – oft mithalten.
Die Methoden waren unkonventionell. Man hatte nicht viel, zum Beispiel keine hohen Berge. Aber man wusste sich zu helfen. Um etwa Geschwindigkeiten von 130 km/h wie auf der Streif in Kitzbühel zu erreichen, schlug man sich eine Schneise unterhalb der Fichtelberg-Seilbahn durch die Fichten.
Wenn der Schnee fehlte, was schon damals nicht nur im Sommer öfter der Fall war als in den Alpen, behalf man sich mit Bohnerwachs unter den Skiern und wässerte das Gras der Hänge. Ein ikonisches Foto zeigt Riedels Frau Hannelore, die noch mehr DDR-Meistertitel gewann als er, bei einem solchen „Schlitter“-Slalomtraining im und auf dem Grünen.
In den Bereichen Kondition, Kraft und Mentales ging man ebenfalls neue Wege. „In der Halle mussten wir zum Beispiel Trampolin springen, aber nicht einfach so, sondern der Loos stellte uns während eines Saltos Rechenaufgaben.“ Tennis war Pflicht, als Schulung für Reaktion und Koordination. Klassisches Krafttraining mit „Eisen“ lehnte Loos ab, ließ seine Sportler nur dynamisch mit dem eigenen Körpergewicht arbeiten.
Und Riedel selbst entwickelte ein Sommer-Abfahrtstraining der besonderen Art: Er lief jene Schneise unter der Seilbahn nicht nur hinauf, sondern, zu Fuß, auch in die andere Richtung: „Runter zu bin ich dreieinhalb Minuten gelaufen, die Seilbahn hat sieben gebraucht“. Beim ersten Mal sei er „durch den Druck, der sich dadurch so schnell auf den Körper aufbaut, vollkommen unter Schock“ gewesen. Doch dieser Stress habe einen starken Trainingseffekt ergeben, kombiniert mit Kräftigung der Antagonisten-Muskeln, die beim normalen Kraft- und Konditionstraining zu kurz kommen.
Marco Odermatt hat meine Welle von damals genau gefahren.
Eberhard Riedel über den Sieger von Adelboden 2024 und 2025
Doch all dies konnte das, was man in den wirklich hohen Bergen trainieren und bei regelmäßigen Rennteilnahmen an Erfahrung sammeln konnte, nur teilweise ersetzen. Trotzdem fuhren ein paar der Fichtelbergler zumindest immer mal wieder mit der Weltspitze mit. Riedel wurde 1960 bei der ikonischen Lauberhorn-Abfahrt in Wengen in der Schweiz Sechster und Achter in der Kombination aus Abfahrt und Slalom.
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1961 gelang ihm sein größter Erfolg: In Adelboden gewann er den Riesenslalom, mit auch damals schon sagenhaften 1,3 Sekunden Vorsprung vor dem zweitplatzierten Schweizer Willy Forrer. Er blieb jahrzehntelang der letzte Deutsche, dem das gelungen war. Erst Felix Neureuther schaffte es 2014 ebenfalls.
Après-ski mit humorvollen Damen
„Der Steilhang in Adelboden, der kann dich erdrücken“, sagt Riedel, „aber ich war so fokussiert und hatte die Kraft und Kondition, dass ich ihn optimal gefahren bin.“ Im Fernsehen lässt sich Riedel Adelboden heute kaum einmal entgehen. „Marco Odermatt hat meine Welle von damals genau gefahren“, sagt er über den Sieger von 2025.
Bei Sonnenaufgang am Morgen nach seinem Sieg begegnete Riedel bei der Streckenbesichtigung dem westdeutschen Sportjournalisten Harry Valerien, der ihm herzlich gratuliert habe.

© Richard Friebe
Es ist einfach nur diese eigentlich selbstverständliche Art fairer Anerkennung, die Riedel bis heute wichtiger zu sein scheint als alle Ergebnislisten. Zu seinen aktiven Zeiten gab es sie nicht immer. Manchmal sogar das Gegenteil.
Als die DDR-Männer sich bei einer der gemeinsamen Olympia-Teilnahmen nach dem Training als Gentlemen erboten, den West-Frauen die Ausrüstung zu tragen, hätten diese das Angebot mit den Worten, dass die Ostler wohl auch gerne einmal ein paar gute Skier in Händen halten würden, angenommen. Auch einen Anruf oder vielleicht sogar Besuch von Felix Neureuther, seinem Nachfolger in Adelboden, hätte er sich gewünscht. „Aber nüscht“, sagt Riedel.
1968, Grenoble, sind Riedels dritte Olympische Spiele, zum ersten Mal nicht als Mitglied einer gesamtdeutschen Equipe, sondern mit einer eigenen DDR-Mannschaft. Es müsste eigentlich eine Befreiung sein, denn die Ränkespiele darum, wer starten darf, aus Ost oder West, würden wegfallen. Kein Willy Bogner etwa würde ihm wie einst durch ein Ergebnis bei einem Rennen, zu dem Riedel gar nicht reisen konnte, die Qualifikation streitig machen.
Professionell ja, aber bitte kein „Profi“
Doch hinter den Kulissen des DDR-Sports brodelt es. Ski alpin ist zu teuer, die ständigen Reisen in Westländer vielleicht doch irgendwann zu verlockend für den einen oder anderen. Und der Fichtelberg ist eben nicht hoch genug. Die Erfolgschancen auch nicht. Im DDR-Sport zählen nur Medaillen.
Und eine passende Begründung haben die Funktionäre auch: Ski alpin professionalisiert sich zunehmend. Zwar wird in der DDR von Rudern über Turnen bis hin zur Leichtathletik längst professioneller trainiert als im Westen. Doch offen „kapitalistischer“ Profisport mit Preisgeldern und Werbeverträgen passt nicht ins sozialistische, ins Arbeiter-und-Bauern-Staat-Image.
Riedel wusste von den Plänen und wollte eigentlich vor Grenoble bereits hinschmeißen. Doch er hoffte dann doch noch auf einen Mann, dem er einst privaten Slalom-Unterricht am Hang in Oberwiesenthal gegeben hatte: Staats- und Parteichef Walter Ulbricht. Auf jeden Fall aber war das Team, wollte es weiterbestehen, zum Erfolg verdammt. Ein Ergebnis unter den ersten sechs, so hatte man Riedel gesteckt, könnte ZK, Politbüro und den mächtigen Sportfunktionär Manfred Ewald vielleicht noch umstimmen.
Frankreichs große Sportzeitung „L’Équipe“ zählte Riedel wegen seiner Trainingsergebnisse zu den Favoriten. Trotzdem ist er, weil er in der Saison eben nur wenige Rennen gefahren ist, in Startgruppe zwei. Er bekommt die maximal ungünstige Startnummer 29.
Riedel stürzt sich den Hang hinunter und bleibt, im Alles-oder-nichts-Modus, im von den fast 30 Fahrern zuvor aufgefegten Neuschnee in jenem Bogen hängen. Es gewinnt der Franzose Jean-Claude Killy, der danach auch noch im Riesenslalom und Slalom reüssiert.
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In jenem Slalom erreicht Riedel doch noch eine Top-15-Platzierung, gleich gut wie das beste Ergebnis der nordischen Skisportler der DDR. Doch jener 13. Rang bringt auch kein Glück. Ostberlin streicht jegliche Förderung, was die Karriere eines der talentiertesten und erfolgreichsten deutschen alpinen Skifahrer von einem Tag auf den anderen beendet. Riedels eigener Vater, Funktionär beim DDR-Skiläuferverband, muss ihm ein paar Wochen später den Reisepass abnehmen.
Das späte Zurück an den geliebten Hang
Der Mann, der ein paar Wochen zuvor beinahe Jean-Claude Killys historischen Dreifachsieg von Grenoble verhindert hätte, den die Staatsführung unter Skifan Ulbricht ein paar Jahre zuvor sogar zum jugendlichen Volkskammer-Abgeordneten gemacht hatte, ist jetzt ein Niemand mit einem „kapitalistischen“ Hobby.
Riedel beendet ein paar Jahre später ein Studium an der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig. Seine Diplomarbeit darf er nicht zu einem Alpinsport-Thema machen, sondern muss über die Anlaufgeschwindigkeit beim Skispringen schreiben. Er arbeitet später unter anderem als Athletiktrainer für die Fußballmannschaft von Wismut Aue, die heute „Erzgebirge“ heißt, in der DDR-Oberliga. Auch die Skispringer in Oberwiesenthal, unter ihnen sein heutiger Nachbar Jens Weißflog, trainiert er für eine Weile.
Nach der Wende ist er schnell seinen Job los und fängt, mit über 50 Jahren, noch einmal von vorne an. Als Fertighausverkäufer. Erfolgreich und mit viel Spaß, wie er sagt. Und er ist schon über 60, als er endlich dorthin zurückkehrt, wo er immer zu Hause war: zum Ski alpin, als Trainer der Kindermannschaft in Oberwiesenthal.
In das allererste Trainingslager mit diesem Team ist er – so wie in den allerersten Winterurlaub nach der Wende – in ein Alpendorf gefahren, in dem er auch zweimal auf dem Podest gestanden hatte: Saalbach-Hinterglemm, Austragungsort der Alpin-Ski-Weltmeisterschaften 2025, die am Dienstag beginnen.
Eberhard Riedel wird den Fernseher einschalten. Er kennt auf den Pisten in Saalbach-Hinterglemm jeden Buckel, so wie an seinem Hausberg in Oberwiesenthal. Diese Saison war er dort noch nicht Skifahren. Der Mann, der während dieser WM 87 Jahre alt wird, hat es aber „fest vor“.
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