zum Hauptinhalt
Voller Entschlossenheit. Verteidiger Luggi Müller von Hertha BSC klärt im eigenen Strafraum

© imago/Horstmüller/sportfotodienst

„Es war eine aufregende, nicht vorhersehbare Saison“: Vor 50 Jahren feierte Hertha BSC die Vize-Meisterschaft

Detlev Szymanek kam im Sommer 1974 von Blau-Weiß 90 zu Hertha BSC. Gleich in seiner ersten Saison als Profi landete er mit den Berlinern auf Platz zwei. Szymanek erinnert sich.

Stand:

Herr Szymanek, am 14. Juni, an diesem Samstag also, jährt sich zum 50. Mal die Vizemeisterschaft von Hertha BSC. Es war die beste Platzierung des Klubs in der Bundesliga und damit der größte Erfolg nach dem Krieg. Wie groß war eigentlich der Frust, dass Sie nicht Meister geworden sind?
Natürlich haben wir uns geärgert. Erich Beer hat es mal in einem Interview gesagt: „Wir verstehen bis heute nicht, warum wir nicht Deutscher Meister geworden sind.“

Aber man darf auch nicht vergessen, dass Borussia Mönchengladbach damals wirklich eine Übermannschaft war. Trotzdem standen wir in der Saison zweimal an der Tabellenspitze – vor allem dank unserer Heimstärke. Von den 17 Heimspielen haben wir 15 gewonnen und kein einziges verloren.

Leider haben wir auswärts einige Niederlagen zu viel kassiert. Ich denke da vor allem an das Spiel in Kaiserslautern …

… das Hertha vier Spieltage vor Schluss 0:3 verlor.
Das war der Punkt, an dem wir wussten: Jetzt ist Gladbach einfach weg.

Am letzten Spieltag sprang die Mannschaft durch einen 4:2-Erfolg gegen den VfL Bochum noch auf Platz zwei.
Direkt nach dem Spiel haben wir uns gefreut, dass wir durch die Niederlage von Eintracht Frankfurt in Braunschweig noch einen Platz hochgerutscht und Vizemeister geworden sind.

Ich habe letztens das Programmheft zu dem Spiel gegen Bochum in den Händen gehabt. „Vielen Dank für schöne Stunden“, stand da. „Immer und in allen Spielen – auch bei den Niederlagen – stand eine Hertha-Mannschaft auf dem Platz, die an Einsatz, Kraft und spielerischem Können alles gegeben hat, was sie zu geben in der Lage war.“ Rührend, oder?

Und die Stimmung im Stadion war nach dem Sieg gegen Bochum vermutlich recht ausgelassen.
Überhaupt nicht. 25.000 Zuschauer waren ins Olympiastadion gekommen. Das waren nur noch die Hartgesottenen. Wäre Hertha heute in so einer Position, müsste man die Karten wahrscheinlich verlosen.

Selbst in der Zweiten Liga kommen gegen Greuther Fürth und Hannover 60.000 Zuschauer. Damals war das nur bei den ganz großen Spielen gegen Bayern oder Gladbach so. Bochum war Hausmannskost.

Nach dem Schlusspfiff war es auch nicht so, dass man uns in der Fankurve sehen und uns die Trikots vom Leib reißen wollte. Das war zu der Zeit aber generell nicht so.

Viel Grund zum Jubeln. Kurt „Kuddi“ Müller (links, mit Erich Beer) machte beim Sieg gegen den Tabellenführer und späteren Meister Borussia Mönchengladbach ein überragendes Spiel.

© imago/Sportfoto Rudel/sportfotodienst

Das Spiel selbst war zumindest einigermaßen spektakulär.
Zur Pause führten wir 3:0, später sogar 4:0. Aus menschlichen Erwägungen hat Georg Keßler dann Holger Brück und mich eingewechselt, weil wir nicht unwesentlich zu der guten und erfolgreichen Saison beigetragen hatten. Kaum waren wir auf dem Platz, machte Bochum innerhalb von wenigen Minuten zwei Tore.

Ich glaube, ich hab immer nur geguckt, dass ich vorne irgendwie selbst noch ein Tor schieße und mich um andere Sachen überhaupt nicht gekümmert. Dadurch wurde das noch mal ein ziemlich schräger Endstand. Aber insgesamt war es eine spannende, eine aufregende, nicht vorhersehbare Saison.

Wie groß war innerhalb der Mannschaft der Glaube, dass Hertha Meister werden kann?
Der Glaube war schon vorhanden. Und unrealistisch war es auch nicht. Aber es gab schon noch Qualitätsunterschiede zu Bayern München und vor allem Borussia Mönchengladbach. Die Gladbacher hatten den Bayern damals ja den Rang abgelaufen.

Die Mannschaft wollte, dass Cramer bleibt. Wir haben sogar gesagt: Wir verzichten ein Jahr lang auf unsere Prämien.

Hertha-Profi Detlev Szymanek

Trotzdem hat Hertha den späteren Meister am 28. Spieltag im eigenen Stadion mit 2:1 besiegt.
Das war ein unglaubliches Spiel, vor allem von Kurt „Kuddi“ Müller, der seinem Gegenspieler Berti Vogts die Grenzen aufgezeigt und beide Tore für uns erzielt hat. Das war ein großes Spiel von Hertha BSC. Und ein großer Sieg. Trotzdem hat es am Ende nicht gereicht.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Die Saison hatte schon alles andere als verheißungsvoll angefangen. Dettmar Cramer war als neuer Trainer verpflichtet worden. Noch in der Vorbereitung aber hat er seinen Vertrag wieder aufgelöst.
Das war in jeder Hinsicht kurios. Denn Dettmar Cramer hatte bereits Wochen oder gar Monate zuvor im Hintergrund für Hertha gearbeitet und auch schon seine Spuren hinterlassen. Er hat damals mit den jungen Talenten, zu denen auch ich gehörte, Sichtungstrainings gemacht. Das war noch an der Plumpe …

… dem alten Stadion von Hertha am Gesundbrunnen.
Ich war 20, hatte für Blau-Weiß 90 in der Regionalliga gespielt und einen Vertrag bei Hertha unterschrieben. Es hieß dann: Wir bereiten die jungen Leute schon mal auf ihre erste Bundesliga-Saison vor. Cramer war bereits in Berlin, hat sich das angeguckt und einem das Gefühl gegeben, dass man durchaus ein wichtiger Faktor sein kann.

Er war zwar noch nicht der Welttrainer, der er später wurde, aber er hatte schon einen unglaublichen Ruf. Seine Verpflichtung löste in Berlin eine regelrechte Euphorie aus. Beim ersten Mannschaftstraining waren viele hundert Zuschauer dabei.

Wie ging es dann weiter?
Am nächsten Tag sind wir ins Trainingslager nach Herzogenaurach gefahren, ins neu gebaute Sporthotel von Adidas, unserem Ausrüster. Da rumorte es schon. Aber Cramer hat uns noch trainiert. Irgendwann wurde die Mannschaft dann zusammengerufen. Da hat man uns mitgeteilt, dass der Vertrag mit ihm aufgelöst worden war.

Da, wo ich hinkomme, ist der Erfolg.

Georg Keßler, Trainer von Hertha BSC

Wurde die Mannschaft über die Gründe informiert?
Das wurde überhaupt nicht kommuniziert. Es gab Gerüchte, dass Cramer Versprechungen gemacht worden waren, die der Klub dann nicht einhalten konnte, dass man ihm angeblich zugesagt hatte, Paul Breitner und Uli Hoeneß zu Hertha zu holen.

Später hat Heinz Warnecke, Herthas damaliger Präsident, enthüllt, dass Cramer nicht mit Wolfgang Holst zusammenarbeiten wollte, der im Zuge des Bundesligaskandals vom DFB gesperrt worden war, im Hintergrund aber schon wieder für den Klub tätig war.

Als Ersatz für Cramer hat Hertha dann Georg Keßler verpflichtet. Wie hat die Mannschaft das aufgenommen?
Die Mannschaft wollte, dass Cramer bleibt. Und weil wir dachten, sein Rücktritt hätte finanzielle Gründe gehabt, haben wir sogar beschlossen: Wir verzichten ein Jahr lang auf unsere Prämien. Aber Georg Keßler hatte Hertha schon seine Zusage gegeben und war bereits im Anflug. Unsere Haltung ihm gegenüber war anfangs eher ablehnend.

Georg Keßler sprang kurzfristig als Trainer für Dettmar Cramer ein. In den drei Jahren bei Hertha wurde er Vize-Meister und Vize-Pokalsieger.

© imago images/Werner Otto

Michael Sziedat hat mal erzählt, Keßler habe die Mannschaft mit der Aussage überrumpelt: „Wir werden Meister!“
Das kann ich jetzt nicht bestätigen. Aber er hat zu uns gesagt: „Da, wo ich hinkomme, ist der Erfolg.“ Das hat uns sprachlos gemacht. Bei der Ablehnung, die ihm von uns entgegenschlug, muss ihm das schon sehr viel Energie abgerungen haben.

Nach dem Trainingslager stand eine Reise nach Japan an, die Dettmar Cramer noch initiiert hatte. Die Reise mit drei Spielen in Kobe, Hiroshima und Tokio, fand nun ohne ihn statt. In diesen zehn Tagen haben sich dann alle angenähert.

Welchen Anteil hatte Keßler am Erfolg der Mannschaft? Was hat er konkret dazu beigetragen?
Seinen absolut menschlichen, zugewandten und offenen Umgang mit den Spielern. Er war sogar teilweise fast ein bisschen ängstlich, wenn er jemandem sagen musste, dass er nicht spielt. Aber dieses Wechselspiel aus Nähe und Distanz hat er insgesamt gut hinbekommen.

Er besaß auch ein gutes Fingerspitzengefühl im Umgang mit den Führungsspielern. Wir hatten ja einige starke Charaktere in der Mannschaft, mit dem früheren Nationaltorwart Horst Wolter, mit Luggi Müller, der als Bundesligaspieler alles miterlebt hat, mit Lorenz Horr und Erich Beer. Keßler hat sich die Meinung dieser Führungsspieler angehört.

Und er hatte mit Peter Bentin, unserem Physiotherapeuten, und Hans „Gustav“ Eder zwei wichtige Leute an seiner Seite. Eder war als Co-Trainer eine herausragende Figur, hat immer offen mit uns kommuniziert. Es wurde überhaupt sehr darauf geachtet, dass es in der Mannschaft keine Zweiklassengesellschaft aus den erfahrenen Führungsspielern und den jungen Talenten gibt.

Wir hatten eine richtige Männermannschaft, die über eine große Ernsthaftigkeit und eine gewisse Härte verfügte.

Hertha-Profi Detlev Szymanek

Keßler hatte lange in Holland gearbeitet. Machte sich der holländische Einfluss auf seine Idee vom Fußball bemerkbar?
Den holländischen Einfluss hörte man vor allem, wenn er redete. Wir haben uns immer an seiner Sprache erfreut. Aber fußballerisch war der holländische Touch nicht zu spüren, auch wenn Keßler immer mal wieder Beispiele bemühte.

Welche?
In der Hinrunde war ich kein einziges Mal zum Einsatz gekommen, zum Auftakt der Rückrunde habe ich dann mein Bundesligadebüt gefeiert, ausgerechnet in Düsseldorf, wo ich inzwischen lebe. Vor dem Spiel hatte mich Keßler wieder mal vertröstet. Aber er hat auch zu mir gesagt: „Du kriegst die Nummer 14 heute. Du weißt, wer die 14 getragen hat, oder? Johan Cruyff!

Der Kader von Hertha BSC für die Saison 1974/75. Detlev Szymanek steht in der hinteren Reihe als Vierter von rechts.

© imago/Horstmüller/sportfotodienst

Was hat die Mannschaft in jener Saison ausgezeichnet?
Es war eine leistungsorientierte Truppe, eine richtige Männermannschaft, die über eine große Ernsthaftigkeit und eine gewisse Härte verfügte. Und es gab diese gute Konstellation aus Jung und Alt.

Zu den aufstrebenden Talenten zählten neben mir auch Wolfgang Sidka, der mit 19 Jahren noch ganz junge Jürgen Diefenbach und Thomas Zander, der auch erst 23 war. Wir haben den Etablierten wie Luggi Müller, Erich Beer, Holger Brück oder Erwin Hermandung mit unserer positiven und energischen Art Dampf gemacht.

Trotzdem war es ein respektvolles Miteinander. Da wurde das Wort der Erfahrenen akzeptiert – weil wir gemerkt haben, von denen kann man was lernen. Selbst wenn du vor 30.000 Zuschauern in Mönchengladbach auf dem Bökelberg oder vor 80.000 bei uns im Olympiastadion auf der Bank gesessen hast, hast du geguckt, wie die Etablierten mit diesem Druck umgegangen sind.

Das war einfach ein Team, das mit Achtsamkeit und gegenseitiger Anerkennung unterwegs war. Und ein bisschen abergläubisch waren wir auch.

Inwiefern?
Als wir ein Heimspiel nach dem anderen gewannen, sind wir am Abend vor dem Spiel immer aus unserem Quartier in der Sportschule am Kleinen Wannsee ins Kino im Zoo-Palast gefahren. Da konnte der Film, der gezeigt wurde, noch so schlicht sein. Da musste man hin.

Insgesamt hört sich das alles so an, als wäre es für Sie als jungen Spieler vergleichsweise einfach gewesen, sich in dieser Mannschaft zurechtzufinden.
Nein, es war nicht einfach. Aber ich war Berliner. Ich hatte keine Angst. Ich hab mir gesagt: „Ich halte dagegen. Ich schaffe das.“

Nach der Vizemeisterschaft haben Sie noch zwei Jahre für Hertha gespielt. Die Mannschaft wurde Zehnter und Elfter. Warum konnte Hertha den Erfolg von 1975 nicht verstetigen?
Im Fußball kann man nicht alles immer erklären. Als wir 1975 Vizemeister wurden, haben wir vielleicht über unsere Verhältnisse gespielt. Die Euphorie war groß und hat uns getragen. In den Jahren danach haben die Rädchen dann nicht mehr so ineinander gegriffen. Das ist ja auch heute teilweise noch so. Da spielt eine Mannschaft ganz oben mit, und im nächsten Jahr fehlt dann ein Quäntchen oder das, was die Sportreporter heute Momentum nennen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })