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Gary Lineker im Interview: „Ich bin ein Freund des Elfmeterschießens“
Der frühere englische Nationalspieler und heutige BBC-Moderator Gary Lineker über seine berühmte Fußball-Definition, Kriegserwähnungen in der Kabine und das Aus bei der WM 1990 im Elfmeterschießen gegen die Deutschen.
- Markus Hesselmann
- Christopher Young
Stand:
Ihr Spruch, dass Fußball ein Spiel für 22 Spieler ist und am Ende Deutschland gewinnt, ist sehr populär in England – aber noch viel populärer in Deutschland.
Ich weiß. Jedes Mal, wenn ich nach Deutschland komme oder Deutsche treffe, werde ich damit konfrontiert.
Wann und wo haben Sie den Spruch zum ersten Mal gemacht?
Es war in einem Interview mit einer amerikanischen Zeitung vor der WM in den USA 1994. Ich sollte den ungebildeten amerikanischen Zuschauern erklären, was es mit dem Fußball auf sich hat. Ich sagte damals etwas wie: Es gibt 22 Spieler, 11 auf jeder Seite, sie haben merkwürdige bunte Hemden an, sie treten einen Sack voll Luft durch die Gegend. Ich sagte noch eine Reihe anderer Sachen und schließlich, dass am Ende die Deutschen den Pokal gewinnen. Da ist dann über die Jahre immer wieder etwas weggenommen worden und jetzt heißt es nur noch: Fußball ist ein Spiel für 22 Spieler und am Ende gewinnen die Deutschen.
Das hat sich ja nun etwas geändert...
Ja, die Deutschen gewinnen nicht mehr so oft. Tut mir leid. Vor 1994 waren sie sehr dominant, in fast allen Finalspielen präsent. Insofern war mein Spruch damals schon gültig. Jetzt würde ich das anders ausdrücken. In den vergangenen Jahren haben die Deutschen ja durchaus ihre Schwierigkeiten gehabt. Sie bringen nicht mehr die Spieler hervor wie früher.
Warum haben die Deutschen denn früher immer gewonnen, vor allem in der Zeit, als Sie Spieler waren?
Viele sagen, das Management-System, der Ansatz, die charakterliche Einstellung seien wichtig, aber entscheidend ist letztlich, Weltklasse-Talente zu produzieren fast wie am Fließband. Die Deutschen haben mit ihrem Trainingssystem diese Talente hervorgebracht. Es wurden eine Menge Klischees über die Deutschen verbreitet – ihre Organisation und all das –, aber letztlich war das nicht entscheidend, sondern eine gute Einheit aus starken, hochtalentierten Spielern. Ja, sie waren organisiert und diszipliniert, aber gleichzeitig waren sie erfolgreiche Torschützen und hatten Spieler mit Fantasie und Flair. Zurück in die Sechziger mit Beckenbauer und Gerd Müller und hin zur Zeit, als ich spielte, mit Klinsmann, Völler oder Matthäus.

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Sie konnten das eine lange Zeit aufrechterhalten. Im Fußball läuft alles in Zyklen. Die Deutschen hatten einen langen Zyklus. Im Moment haben sie nicht die Spieler wie früher. Länder wie Deutschland und England sind groß, aber nicht im Vergleich mit Brasilien. Die haben 250 Millionen Einwohner und produzieren immer gute Spieler.
In England hat sich viel verbessert. Wie wurde der Umschwung erreicht?
Die jungen Spieler werden anders ausgebildet. Die Profivereine bilden schon die Kinder professioneller aus. Sie haben Akademien, die Kinder werden nicht mehr von Schullehrern oder ihren Eltern trainiert. Das macht schon was aus. Ein Beispiel: Wir hatten schon immer technisch gute Stürmer, aber selten technisch gute Verteidiger. Es war unsere Kultur, den Ball einfach nach vorne zu dreschen. Das verändert sich allmählich. Wir haben nun Verteidiger, die den Ball auch passen können. Das ist gut so und es zeigt: Es gibt noch Hoffnung.
Und was machen die Deutschen falsch?
Sie machen sicher nicht sehr viel anders als früher. Aber ihr Zyklus scheint zu Ende zu sein. Wenn man sich anschaut, dass England zurzeit jede Menge gute junge Spieler hat, dann denkt man, dass man bei dieser WM gute Chancen hat, wenn sie sich nicht verletzen. Deutschland dagegen hat nur zwei, drei gute junge Spieler. Man würde bei der WM wohl kaum auf Deutschland tippen.
Was macht den englischen Fußball aus? Gibt es typisch englischen Fußball überhaupt noch im globalisierten Fußball?
Unser Spiel wird immer noch mit 160 Stundenkilometern gespielt, egal ob da 20 Ausländer in der Premier League auf dem Feld stehen. Das ist erstaunlich. Aber die Leute wollen nichts anders sehen. Es hat einen Sogeffekt auf die ausländischen Spieler. Kein Zweifel, der Stil des Fußballs spiegelt die nationale Kultur wider. Es mag wohl eine Verallgemeinerung sein, aber es ist kein Zufall. Welche Tugenden haben die Engländer noch? Niemals aufgeben! Entschlossenheit, Standfestigkeit, wenig Feinheiten, wenn wir den Ball hinten haben, dann spielen wir immer noch etwas zu direkt. Das ändert sich allmählich wegen der Ausbildung. Aber immer noch nicht genug. Die Hauptsache ist immer noch das Tempo, vielleicht auch der volle Einsatz. Das ist in England einmalig.
Und wie sieht es im Vergleich bei den Deutschen aus?
Ich will Klischees vermeiden, aber ich denke, dass der Mannschaftsgeist immer den entscheidenden Anteil am deutschen Erfolg hatte. Alle Spieler haben eine hohe technische Fähigkeit, also nicht nur in der Offensive. Die Deutschen haben immer von ihrem festen Spielsystem profitiert. Es ist wohl jetzt nicht mehr so, aber sie haben noch lange mit Manndeckern und Vorstopper gespielt. Sie blieben lange dabei, auch als der Rest der Welt davon abging. Deshalb spricht man von der Organisation, wenn es um den deutschen Fußball geht. Alle deutschen Mannschaften schienen dasselbe System zu spielen. Daher kommt das Klischee, dass die Deutschen sehr diszipliniert und gut organisiert spielen. Deutsche spielen Mann gegen Mann, so ist das.
Ein anderes Klischee: Warum können Engländer keine Elfmeter schießen?
Das ist so eine Sache. Ich denke, dass wir nicht so viele technisch begabte Spieler produzieren wie andere Länder, darunter auch Deutschland. Diese Dinge ändern sich allmählich auch bei uns wegen Umstellungen in der Ausbildung der ganz jungen Spieler. Sie verbessert sich in gewissem Maße. Und das kommt England dann auch beim Elfmeterschießen zugute. Gut ausgebildete Mannschaften haben leichte Vorteile beim Elfmeterschießen. Sie variieren ihre Schüsse besser. Sie wissen, dass die Torhüter die Schützen genau studieren, auch mit Hilfe des Fernsehens. Im Prinzip kann jede Mannschaft jede andere im Elfmeterschießen schlagen.
Aber 1990 haben die Deutschen ihr Elfmeterschießen speziell trainiert. England nicht, mit einer Ausnahme: ich selbst. Man hört das immer wieder in England, auch von Nationaltrainern, dass es keinen Sinn hat, Elfmeterschießen zu üben, da es im Stadion unter Druck eine andersartige Situation ist. Wenn das so wäre, dann dürfte kein Golfspieler seinen Putt üben. Es ist fast zu blödsinnig, um darüber zu diskutieren.

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Haben Sie denn 1990 nicht vorgeschlagen, dass die anderen auch Elfer üben?
Ich wollte mich nicht aufspielen. Ich habe jeden Tag zwanzig bis dreißig Elfmeter geübt. Denn ich sollte ja auch im Spiel die Elfer schießen. Es gab also einen Grund für mich. Aber man muss nicht Einstein sein, um zu erkennen, dass wir mal in ein Elfmeterschießen kommen können. Und es wäre ja vielleicht auch nicht schlecht, das mal zu üben. Diesen Fehler haben wir damals gemacht und wir haben ihn immer wieder gemacht. Aber ich glaube, jetzt wird das geübt.
Viele Leute sagen ja, Elfmeterschießen sei ohnehin nur eine Sache des Glücks.
Glück spielt in gewissem Maße eine Rolle. Wenn der Torwart in die richtige Richtung springt und du hast nicht genau ins Eck geschossen, dann hält er den Ball. Ich bin auf jeden Fall ein großer Fan des Elfmeterschießens. Es ist der ultimative Test deiner Fähigkeiten und deines Muts unter höchstmöglichem Druck. Es gibt keinen besseren Test deiner mentalen Stärke als das Elfmeterschießen.
Also müssten Sie ja ein Gegner von Golden oder Silver Goal sein.
Ich arbeite ja nun beim Fernsehen. Und Elfmeterschießen ist großes Fernsehen! Ob man es liebt oder hasst – und viele hassen es ja, normalerweise, wenn sie dadurch verloren haben –, es ist ein wunderbar packendes Drama. Und das ist ja unser Geschäft. Fußball, egal wie wichtig die Leute ihn nehmen, ist schließlich auch Unterhaltung. Da gibt es nichts packenderes als Elfmeterschießen.
Dann müsste Ihnen ja alles noch präsent sein von damals, 1990…
Das ist lange her, aber ich erinnere mich schon. Ich weiß allerdings nicht mehr, wie die Schützen ausgesucht wurden. Klar war, dass ich ran musste. Ich habe nur noch vor Augen, wie wir fünf Schützen im Mittelkreis standen. Bobby Robson kam rüber und sagte: Enttäuscht uns nicht! Zu Hause schauen dreißig Millionen Menschen zu. Peter Beardsley und ich fingen an zu lachen. Ich glaube, dass Robson diesen Effekt erzielen wollte. Es war seltsam, uns auch noch den Druck vor Augen zu führen, den wir ja ohnehin hatten. Aber man sagt manchmal komische Dinge, wenn man unter Druck steht.
Standen die fünf Schützen schnell fest?
Vier auf jeden Fall. Ich glaube, Chris Waddle hat sich nicht freiwillig gemeldet.
Das ist ein schlechtes Zeichen. Er hat ja auch den entscheidenden Elfmeter verschossen.
Ja, aber eigentlich waren wir alle gute Schützen. Jeder hatte einen anderen Stil. Die Deutschen haben alle genau ins Eck geschossen. Das ist schon ungewöhnlich. Man sieht selten ein Elfmeterschießen, in dem jeder Schuss perfekt ist. Ich habe mit Peter Shilton das Zimmer geteilt. Wir haben viele Elfmeterschießen geguckt. Jedes Mal gibt es mindestens zwei Schüsse mehr oder weniger in die Mitte. Also hielt Shilton es für die beste Taktik, erstmal zu warten und zu gucken, wohin der Ball geht, bevor er reagiert. Das Problem war, dass bei den Deutschen jeder Schuss genau in die Ecke ging. Er kam einfach nicht dran, Pech gehabt, denke ich.
Und das ausgerechnet gegen die Deutschen. War die Rivalität mit Deutschland für Sie schon immer etwas Besonderes?
Das ist immer ein großes Spiel. Überhaupt das erste Länderspiel, an das ich mich sehr genau erinnere, war das WM-Viertelfinale 1970 in Mexiko. Da war ich neun Jahre alt. Ich habe geweint nach dem Spiel. Den Deutschen ist es irgendwie gelungen, uns unseren Sieg wegzuschnappen. Das war meine erste Erinnerung vom internationalen Fußball. In diesem Land wuchsen wir auf mit dem Leiden am Fußball. 1966 war ich fünf, also leider noch zu jung, um den Sieg mitzubekommen. In meiner Erinnerung hat England immer gegen Deutschland verloren. Das sind immer große Spiele. Hier spielen zwei Länder, die total vom Fußball besessen sind. Echte Aficionados.

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Spielt der Krieg nicht auch eine Rolle?
Das ist ja nur natürlich. Aber die meisten von uns wurden ja lange nach dem Krieg geboren. Der Krieg wird immer erwähnt. 1990 saßen wir in der Kabine vor dem Spiel. Wir haben immer auf die anderen Spiele gewettet und ich war der Buchmacher. Zusammen mit Peter Shilton. Wir haben auf alles mögliche gewettet. In der Kabine stand so eine Taktiktafel, ein Flip Chart, bei dem man das Papier voll schreiben und dann umschlagen kann. Vor der Mannschaftsbesprechung zum Deutschland-Spiel habe ich auf das zweite Blatt geschrieben: Ich wette, dass er den Krieg erwähnt.
Bobby Robson kam rein, und sein erster Satz war: Jungs, denkt an den Krieg! Großer Beifall, großes Gelächter, großes Hallo! Robson fragte: Was ist denn hier los? Da sagte jemand: Schlagen Sie doch mal den Flip Chart um. Er schlug die Seite um, sah die Wette und zeigte auf mich: Hey Lineker… Man kann schon nachvollziehen, was diese Generation durchgemacht hat und dass sie immer wieder darauf zurückkommen. Aber für uns ist das eher amüsant.

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Haben alle Spieler diese ironische Haltung?
Natürlich wissen wir alle, dass der Krieg ein ernstes Ereignis in der Weltgeschichte war. Aber muss man das immer wieder mit dem Fußball zusammenbringen? Wenn man in England in den vergangenen dreißig, vierzig Jahren Fernsehen geschaut hat, dann weiß man, dass diese Sicht in diesem Land verbreitet ist, besonders in der Nachkriegsgeneration. Denken Sie an „Fawlty Towers“. Das war typisch für die Haltung dieser Generaton. Der Hotel-Manager hat deutsche Gäste und sagt seinem Personal: „Don’t mention the war“, erwähnt bloß nicht den Krieg.

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Dieser Witz in der Kabine war ja nicht von mir. So originell bin ich nicht. Es war aber meine ironische Sicht. Aber ich war mir hundertprozentig sicher, dass er den Krieg erwähnen wird. Ich glaube aber, dass sich das ändert. Diese Haltung ist heute nicht mehr so dominant wie früher. Ich glaube, die Briten sind nicht mehr so anti-deutsch, wie sie mal waren. Sie tun zwar manchmal so – Bloody Germans, die gewinnen alles und so weiter – aber das hat sich ja nun geändert, weil die Deutschen ja nicht mehr gewinnen (lacht).
Das Interview führten Markus Hesselmann und Christopher Young. Es ist ein Vorabdruck aus dem von ihnen herausgegebenen Buch „Der Lieblingsfeind. Deutschland aus der Sicht seiner Fußballrivalen“, das zur WM 2006 im Verlag Die Werkstatt erscheint.
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