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Sport: Nie mehr elfte Liga

Im Leipziger WM-Stadion spielt Lokomotive vor 12 400 Zuschauern in der dritten Kreisklasse – und träumt von der Bundesliga

Holger Herrmann steht mitten auf dem Feld des Leipziger Zentralstadions. Das Spiel ist längst vorbei, aber Herrmann muss fürs Fernsehen noch ein Interview geben. Er kann immer noch nicht glauben, was er gerade erlebt hat. Der 44-Jährige hat eine Halbzeit im Tor gestanden, fünf Treffer kassiert. Seine Mannschaft hat 0:8 verloren. Es war das schönste Fußballspiel seines Lebens. Herrmann blickt ehrfurchtsvoll hinunter auf den makellosen Rasen. „Das ist Wahnsinn“, sagt er. „Wir haben auf dem WM-Rasen gespielt.“ In weniger als zwei Jahren werden die besten Fußballer der Welt hier auflaufen, in fünf Wochen spielt die deutsche Nationalelf gegen Kamerun. Auf demselben Rasen, auf dem Herrmann gerade mit der zweiten Mannschaft von Eintracht Großdeuben gegen den 1. FC Lokomotive Leipzig gekickt hat. In einem Spiel der dritten Kreisklasse, der elften Liga. Vor 12 421 Zuschauern.

Großdeuben ist ein kleines Dorf südlich von Leipzig mit rund 1600 Einwohnern. Die erste Mannschaft des örtlichen Fußballvereins spielt in der ersten Kreisklasse, die zweite Mannschaft in der dritten Kreisklasse – einer Welt aus holprigen Aschenplätzen, Thekenfußballern und einem Zuschauerschnitt, der laut Vereinspräsident Bernd Geyer „zwischen zehn und zwanzig“ liegt. Das einzig Besondere an der dritten Kreisklasse ist, dass man aus ihr nicht absteigen kann, weil es tiefer nicht mehr geht.

Doch in diesem Jahr ist alles anders. In dieser Saison spielt Großdeuben nicht nur gegen Taucha, Großpösna und Automation, sondern auch gegen Lokomotive, den erfolgreichsten Leipziger Fußballklub, vierfacher DDR-Pokalsieger, Europapokalfinalist 1987. Unter dem Namen VfB wurde der Klub 1903 erster Deutscher Meister. Nach der Rückbenennung in VfB stieg der Klub 1993 in die Bundesliga auf. Doch dann begann der rasche Abstieg, der in diesem Sommer mit der zweiten Insolvenz und der Streichung aus dem Vereinsregister endete.

Die Anhänger gründeten einen neuen Verein unter dem alten DDR-Namen und mussten ganz unten wieder anfangen, in der letzten, der elften Liga. „Mit 300 Zuschauern haben wir kalkuliert“, sagt Präsident Steffen Kubald. Es kamen zehnmal so viele, nach nur einem Heimspiel hatte der 1. FC Lokomotive das Soll des ganzen Jahres erfüllt. Deshalb wagte der Klub den Umzug für ein Spiel aus dem maroden Bruno-Plache-Stadion mit der alten Holztribüne aus den 30er-Jahren in den WM-Spielort Zentralstadion, eines der modernsten Stadien in Deutschland.

Als hätten die Fans jahrelang nur auf dieses Spiel gewartet, haben sie aus ihren Kleiderschränken die alten blau-gelben Schals wieder hervorgeholt und sind ins Zentralstadion gekommen. Es ist das wohl größte Kreisklassenpublikum aller Zeiten. Als der Lokalrivale FC Sachsen, der Viertligist, im Juli zum Eröffnungsturnier einlud, gegen Werder Bremen, Roter Stern Belgrad und den FC Brügge, kamen nur rund 10 000 Zuschauer.

Es muss vor allem der Name sein, der die Menschen wieder ins Stadion zieht. „Viele von denen sind lange nicht beim VfB gewesen“, sagt Kubald. Und Olaf Marschall, der im Europapokalfinale 1987 für Lok im Angriff spielte, später Bundesliga-Profi in Kaiserslautern und Nationalspieler war, vemutet, dass „viele mit ‚Lok’ mehr verbinden als mit dem VfB“. Marschall ist ebenso ins Stadion gekommen wie die Ex-Profis Bernd Hobsch und Heiko Scholz, inzwischen Kotrainer beim Zweitligisten MSV Duisburg. Scholz spielt sogar selbst mit. Nach zehn Minuten schießt er das 1:0. Im vorigen Heimspiel gegen Paunsdorf (20:0) haben die Leipziger sogar den 62-jährigen ehemaligen DDR-Nationalspieler Henning Frenzel noch einmal aufs Feld geschickt.

Auf der Videoleinwand laufen derweil die alten Bilder vom Europapokalhalbfinale 1987, dem Sieg im Elfmeterschießen gegen Girondins Bordeaux. Der Wimpel zum Spiel ist als Reproduktion vor dem Stadion zu kaufen. Und die Fans singen die gleichen Lieder, die schon vor zwanzig Jahren durch das alte Zentralstadion schallten. Es ist ein Folklore-Fest, bei dem „alte Erinnerungen hochkommen“, wie Marschall sagt. Es ist aber auch ein Testlauf für die Zukunft. An diesem Nachmittag ist eine Idee davon entstanden, was in Leipzig möglich wäre, wenn es einer der Klubs wieder in den Profifußball schaffen könnte.

Wenn Lok keinen höherklassigen Partner für eine Fusion findet, um so einige Ligen zu überspringen, könnte das allerdings sehr lange dauern. Zehnmal müsste der Verein aufsteigen, um die Bundesliga zu erreichen. Im WM-Jahr 2006 träfe Lok erst einmal wieder auf Großdeuben – auf die erste Mannschaft, in Liga neun.

Steffen Hudemann[Leipzig]

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