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Kinder brauchen mehr als Muttis: Die Kernfamilie reicht Menschen nicht
Ist es „natürlicher“, sein Kind ganz allein aufzuziehen, oder braucht es das sprichwörtliche Dorf? Mensch zu sein, heißt, seine Kinder kooperativ großzuziehen, sagt zumindest die Forschung.

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Tränen, Geschrei, Festklammern – manchen Kindern fällt es schwer, die Eltern loszulassen und den Tag in der Kita zu verbringen. Und auch manche Eltern geben ihre Kleinen nur ungern „weg“, wenn auch nur für ein paar Stunden.
Kein Wunder, dass über Vor- und Nachteile der Kita und Krippe für die Entwicklung des geliebten Nachwuchses mitunter heftig gestritten wird. Auch die Biologie wird dann als Argument bemüht, die Kernfamilie als „natürlich“ gepriesen, die Fremdbetreuung als „unnatürlich“ gegeißelt.
Auch wenn diese biologistische Argumentation schon deshalb recht sinnfrei ist, weil der Mensch heute in vielerlei Hinsicht ganz anders lebt als in der Urzeit (wann genau das auch immer gewesen sein mag), kann man ja mal kurz darauf eingehen. Denn wenn es um das Aufziehen der Kinder geht, ist es dem Stand der Forschung nach wahrscheinlich alles andere als „natürlich“, dass die Eltern – meistens die Mutter – damit allein gelassen werden.
Denn wie Wölfe oder Lemuren gehört auch der Mensch zu den Tierarten, die ihren Nachwuchs „kooperativ aufziehen“: Die Blagen werden nicht nur von den Eltern, sondern auch Großeltern, Tanten, Onkeln und sogar nicht direkt verwandten Artgenossen versorgt.
Tatsächlich zeigen Beobachtungen traditionell lebender Jäger-Sammler-Gesellschaften, dass zur Kinderbetreuung und -versorgung immer auch Angehörige und Nicht-Angehörige unterschiedlichen Alters und Geschlechts beitragen. Evolutionsforschern zufolge hat das die Überlebenschancen menschlicher Gemeinschaften wohl einst entscheidend verbessert.
So beträgt die Zeit zwischen den Geburten bei unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, oft Jahre, damit die Mutter nicht mehrere Kinder betreuen muss. In der Zeit hat Homo sapiens schon längst zwei, drei weitere Zukunftsgaranten gezeugt: weil die Gruppe den Nachwuchs gemeinsam versorgen kann.
Das kooperative Kinderhüten könnte womöglich sogar der Ursprung für unser typisch menschliches, arbeitsteiliges, kooperatives Verhalten gewesen sein. Selbst die Entwicklung eines immer größeren Gehirns könnte darauf zurückzuführen sein, dass es für die Weitergabe der eigenen Gene entscheidend war, das Beziehungsgeflecht mit all den Menschen aufrechterhalten zu können, denen man seine Kinder anvertrauen musste.
Ist es uns also ins Erbgut geschrieben, uns auch um die Kinder der Nachbarn zu kümmern, das im Supermarkt verloren gegangene Mädchen zu trösten, die Rasselbande der besten Freundin zu babysitten, damit sie mal wieder durchschlafen kann?
Selbst wenn es so ist: Es wäre kein Argument dafür, ein Kind, das sich von seinen Eltern an der Kita-Tür nicht trennen will, dazu zu zwingen. Vielleicht braucht der Zweijährige einfach noch etwas Zeit. Oder einen Freund, der ihm zeigt, was es in der Spielekiste Tolles zu entdecken gibt. Die Kids des Erbonkels hatten das nicht nötig. Wenn der Vater, statt gleich zu gehen, noch kurz mit den Erzieherinnen plauschte, hieß es: „Du bist ja immer noch hier!“
Der „Erbonkel“ – Geschichten rund um Gene, jedes Wochenende.
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