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Das Passagierschiff „Gouverneur General Jonnart“, das mehrere Radiosender der Freien Zone beherbergte, liegt im alten Hafen von Marseille, Frankreich, um 1940.

© Gamma-Keystone via Getty Images

Tausende vor den Nazis bewahrt: Das Jewish Labor Committee und die Rettung der deutschen Sozialdemokratie

Eine jüdische Vereinigung organisierte Rettungsmissionen für europäische Sozialdemokraten im besetzten Frankreich. Sie rettete zahllose Leben, blieb aber im Vergleich zu anderen oft unerwähnt. 

Von Stefan Braun

Stand:

„Tief hingen die schwarzen Wolken über dir, o lebensfrohe Stadt.“, so beschreibt die 16-jährige Marianne, Tochter des bekannten sozialdemokratischen Journalisten Friedrich Stampfer, die Stimmung in Marseille im Spätsommer 1940.

Die Lage ist chaotisch. Das Deutsche Reich hat Frankreich innerhalb weniger Wochen besiegt und wesentliche Teile besetzt. Nur Südfrankreich bleibt unbesetzt, hier wird das Vichy-Regime installiert.

Marianne und tausende andere Gegner der Nationalsozialisten im unbesetzten Teil Frankreichs fürchten, was als Nächstes kommen wird. Werden die Nazis bald auch in Marseille sein?

Alle hoffen verzweifelt, von der Hafenstadt aus ins sichere Ausland fliehen zu können. Doch das Vichy-Regime erschwert die Ausreise, insbesondere für Deutsche und Italiener. In dieser hoffnungslosen Situation organisieren verschiedene Gruppen, darunter das Jewish Labor Committee (JLC) und das Emergency Rescue Committee (ERC) Rettungsmissionen für die Bedrohten.

Während die Rettungsmission des ERC um Varian Fry, der sich um berühmte Intellektuelle wie Hannah Arendt bemühte, immer wieder Aufmerksamkeit erregt – zuletzt in der Netflix-Serie „Transatlantic“ –, ist die ebenso bedeutsame Rettungsmission des JLC kaum bekannt. Ihr Ziel war die Rettung führender europäischer und deutscher Sozialdemokraten und ihrer Familien aus Südfrankreich, darunter die Familie Stampfer.

Menschen fliehen 1941 vor den Nazis aus einer französischen Stadt.

© Getty Images/Keystone

Gegen den Faschismus und für die Arbeiterbewegung in Europa

Sechs Jahre zuvor im Februar 1934 gründeten Delegierte von 300 linken jüdischen Organisationen das Jewish Labor Committee. Sie repräsentieren zusammen hunderttausende zumeist jiddischsprachige Arbeiter. Viele von ihnen waren einst vor dem Antisemitismus in Europa in die USA geflüchtet.

Die Situation wird für die Anführer der Arbeiterbewegung, die gerade in Frankreich leben, jeden Tag tragischer. Sie sind wirklich in einer Todesfalle.

Isaiah Minkoff, Geschäftsführer des JLC, am 26. Juni 1940

Mit der Gründung des JLC wollten sie auf die Errichtung faschistischer Diktaturen in Europa reagieren und setzten sich zum Ziel, gegen Faschismus und Antisemitismus zu kämpfen. Dem JLC war klar: Der Sieg konnte nur errungen werden, wenn man die europäische Arbeiterbewegung unterstützte.

Eine Kundgebung des Jewish Labor Committee in den 1990er Jahren in New York

© Penske Media via Getty Images

Die Historiker Catherine Collomp und Jack Jacobs haben in ihrer jeweiligen Forschung maßgeblich herausgearbeitet, wie sich das JLC zwischen 1934 und 1945 dem Nationalsozialismus entgegenstellte. Beide betonen die Bedeutung der Organisation für die Rettung von Verfolgten aus Europa in den Jahren 1940/41.

Das Jewish Labor Committee im Einsatz für Sondervisa

„Die Situation wird für die Anführer der Arbeiterbewegung, die gerade in […] Frankreich leben, jeden Tag tragischer. Sie sind wirklich in einer Todesfalle“, fasst der JLC-Geschäftsführer Isaiah Minkoff am 26. Juni 1940 die dramatische Situation zusammen. Wenige Tage zuvor hatte Frankreich kapituliert.

Die Zeit eilt. Gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Gewerkschaftsbundes AFL und zwei Vertretern der jiddischen Arbeiterbewegung fordert Isaiah Minkoff in einem Brief an den US-amerikanischen Außenminister am 2. Juli die Ausstellung von Sondervisa für in Europa mit dem Tod bedrohte „weltbekannte“ Politiker der Arbeiterbewegung.

Bereits am folgenden Tag bestätigt das Ministerium, dass die Vereinigten Staaten Sondervisa für die in Südfrankreich gefährdeten Sozialdemokraten aus verschiedenen Ländern und deren Familien ausstellen werden. Ungefähr die Hälfte der Visa ist für osteuropäische (und zumeist jüdische) Sozialdemokraten bestimmt, die übrigen vor allem für deutsche und italienische Linke.

Rasch entsteht in Abstimmung mit bereits exilierten Sozialdemokraten wie dem späteren Richter am Bundesverfassungsgericht Rudolf Katz eine Liste von zu rettenden Personen: der spätere SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer, der ehemalige Finanzminister Rudolf Hilferding, AWO-Gründerin Marie Juchacz, der spätere Hamburger Bürgermeister Herbert Weichmann sowie Friedrich Stampfer stehen darauf.

Die AWO-Gründerin Marie Juchacz gehörte zu den sozialdemokratischen Exilanten. Hier auf einem Foto von 1919.

© IMAGO/Heritage Images

Rettung aus der „Todesfalle“

„Kommen Sie“ nach Marseille, fordert ein Telegramm die Gruppe um Stampfer, Hilferding und Ollenhauer auf. Sie wissen bereits, dass ihnen amerikanische Sondervisa ausgestellt werden sollen.

In Marseille wartet Frank Bohn auf sie. Die SPD-Exilorganisation in den USA und italienische Antifaschisten hatten den Amerikaner mit Geld durch das JLC ausgestattet nach Frankreich entsandt, um die Ausreise zu beschleunigen.

Auch der spätere SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer stand auf einer Liste von zu rettenden Personen.

© imago/ZUMA/Keystone

Dort tritt er dann – obwohl ohne Mandat – als Vertreter des Gewerkschaftsbundes AFL auf. Auch ein Grund, warum die Rolle des Jewish Labor Committee kaum bekannt wurde, vermutet der Historiker Jack Jacobs.

In Marseille stößt noch Fritz Heine dazu. Gemeinsam setzen sie sich vor allem für die Personen auf den JLC-Listen ein, aber auch für diejenigen, die keine Visa erhalten haben. Gleichzeitig bemühen sich Minkoff und das JLC in den USA um weitere Visa.

Auch mit Schiffen wurden Flüchtlinge aus Frankreich in Sicherheit gebracht. Die hier abgebildete „St. Nazaire“ wurde vor der französischen Küste mit 5300 Flüchtlingen an Bord von deutschen Bomben versenkt. Nur 2400 Menschen konnten gerettet werden.

© Getty Images/Bettmann Archive

Sie versuchen, die Ausreise über das faschistische Spanien nach Lissabon auf verschiedenen – legalen und illegalen – Wegen zu organisieren. Oft wissen die Emigranten bis zuletzt nicht, ob ihre Ausreise gelingen wird oder sie noch an der Grenze angehalten werden.

Doch sie wissen, dass sie das Land unbedingt verlassen müssen, wie sich Marianne Stampfer erinnert. Mit der Hilfe Frank Bohns reisen die Stampfers Anfang September an die Grenze Frankreichs.

Nicht nur eine Fußnote der Geschichte

Dort mussten sie einige Tage ausharren, bis sie endlich die Grenze mit der Bahn überqueren dürfen. Noch im selben Monat ist Frank Bohn gezwungen, in die USA zurückreisen. Seine Aktivitäten werden von Fritz Heine, aber auch von Varian Fry weitergeführt, aber auch sie müssen 1941 das Land verlassen.

Aufgrund dieser Zusammenarbeit von ERC und JLC spricht Catherine Collomp in ihrem Buch „Rescue, Relief, and Resistance“ (2021) von einer „geteilten Ehre“.

Varian Fry (r.) führte die Aktivitäten des JLC weiter, bis er 1941 ebenfalls Frankreich verlassen musste. Auf dem Foto ist auch der Dichter André Breton (2.v.r.) zu sehen.

© imago images / United Archives/United Archives / kpa Publicity

Während es einigen wie der Familie Stampfer gelingt, ins sichere Ausland zu fliehen, sind die Aktivitäten des JLC nicht immer von Erfolg gekrönt. Rudolf Hilferding zögert trotz seines Visums zu lange mit der Ausreise. Im Februar 1941 wird er in Paris ermordet. Andere erhalten kein Visum, bleiben in Frankreich und werden Opfer des nationalsozialistischen Terrors

Mit seinem Einsatz für Sondervisa und die Finanzierung der Mission rettete das Jewish Labor Committee ungefähr 1500 Menschen aus Frankreich. Stolz betonte das JLC 1947, dass von ihm Gerettete in sechs Ländern an Regierungen beteiligt seien. Trotz dieses eindrucksvollen Einsatzes bleibt das Jewish Labor Committee im Gegensatz zum ERC oft unerwähnt.

Viele Gerettete erinnerten sich bis zuletzt dankbar an das JLC zurück. Fritz Heine schreibt über die Rettungsaktion des JLC: „Die Rettung vor Tod und Verderben ist eines der ergreifendsten Zeugnisse menschlicher Solidarität“.

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