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„Unsere Lebensgrundlagen stehen auf dem Spiel“: Was bedeuten 2,8 Grad Erwärmung für Deutschland, Herr Latif?
Die UN gehen nun davon aus, dass die globale Temperatur bis 2100 um 2,8 Grad steigen wird. Was wären die Folgen? Und was muss jetzt getan werden? Ein Interview mit Klimaforscher Mojib Latif.
Stand:
Herr Latif, die Vereinten Nationen gehen nun davon aus, dass sich die globale Temperatur bis zum Jahr 2100 um bis zu 2,8 Grad erhöhen könnte. Was würde das für Deutschland bedeuten?
Deutschland und Mitteleuropa erwärmen sich schneller als viele andere Regionen der Erde. In einer Welt, die sich im Durchschnitt um 2,8 Grad erhitzt, wären hier extreme Dürren, Starkregen, Überschwemmungen und Hitzewellen zu erwarten – Ereignisse, die sich zum Teil nicht mehr beherrschen lassen. Das können wir uns nicht vorstellen, das sind Regenfluten und Dürren, an die wir uns nicht mehr anpassen können.
Der Temperaturanstieg in Mitteleuropa könnte dann also noch höher als 2,8 Grad liegen. Was würde das konkret bedeuten?
Das liegt weit außerhalb unseres Vorstellungsvermögens – vor allem, was Wassermangel, Ernteausfälle und die allgemeine Lebensqualität betrifft. Besonders die Landwirtschaft würde vor enormen Herausforderungen stehen. Es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass unsere Lebensgrundlagen auf dem Spiel stehen.
Wie schätzen Sie die UN-Prognose ein?
Für uns als Wissenschaftler ist das keine Überraschung. Die Treibhausgasemissionen sind in den vergangenen Jahren – selbst nach dem Pariser Klimaabkommen 2015 – weiter gestiegen. Wir sind damit in eine Situation geraten, die den Temperaturanstieg beschleunigt und die Risiken, über die wir zuvor gesprochen haben, noch deutlicher macht.
Man kann das vergleichen mit einem Autofahrer, der im dichten Nebel über die Autobahn rast und nichts sieht. Wenn er nicht vom Gas geht, wird es gefährlich.
Mojib Latif
Welche globalen Folgen hätte diese Erwärmung?
Im Prinzip drohen weltweit ähnliche Gefahren wie in Europa: Extremwetter, Hitze, Dürre, Starkregen und Anstieg des Meeresspiegels. Wir erhöhen in Europa bereits die Deiche, andere Länder können das nicht. Es sind weltweite Migrationsbewegungen ungeahnten Ausmaßes zu erwarten.
Die große Unbekannte sind jedoch die Kipppunkte.
Niemand kann genau vorhersagen, ob und ab welcher Erwärmung welche Komponenten kippen. Es geht beispielsweise um das Grönland- und das Antarktis-Eis, um große Waldsysteme wie den Amazonas und um Meeresströmungen wie den Golfstrom – all das könnte unumkehrbar in einen anderen Zustand übergehen.
Man kann das vergleichen mit einem Autofahrer, der im dichten Nebel über die Autobahn rast und nichts sieht. Wenn er nicht vom Gas geht, wird es gefährlich. In genau dieser Situation sind wir: Wir müssen beim Ausstoß von Treibhausgasen dringend vom Gas gehen, um keine bösen Überraschungen zu erleben.
Was ist Ihre größte Sorge?
Dass wir die natürlichen Senken verlieren, die bislang Kohlendioxid aus der Atmosphäre aufnehmen. Momentan bleibt etwa die Hälfte des ausgestoßenen CO₂ in der Luft, der Rest wird vom Meer oder von der Vegetation an Land aufgenommen. Doch es besteht die Sorge, dass diese Senken immer schwächer werden. Dann würde mehr Treibhausgas in der Atmosphäre verbleiben – und die Erwärmung sich weiter beschleunigen. Vielleicht haben wir sogar schon Kipppunkte überschritten, ohne es zu merken. Einige Prozesse laufen sehr langsam ab, und genau das macht sie so gefährlich.
Zum Beispiel?
Es ist denkbar, dass in Grönland bereits ein Kipppunkt überschritten wurde und das Landeis dort unwiederbringlich abschmelzen wird. Natürlich geschieht das nicht von heute auf morgen, sondern über Jahrtausende hinweg. Der entscheidende Punkt ist jedoch: Wir könnten diesen Prozess dann nicht mehr stoppen, egal, welche Maßnahmen wir ergreifen.
Wir unterschätzen, was da gerade geschieht – es passiert direkt vor unseren Augen.
Mojib Latif
Wie kritisch ist die Lage heute schon bei rund 1,3 Grad globaler Erwärmung?
Die Folgen sind heute schon drastisch genug. Das ist nicht mehr akzeptabel. Denken Sie an die Überschwemmungen in Mitteleuropa in den vergangenen zwei Jahren, oder in Bangladesch, Zentralafrika, aber auch Südkorea, Brasilien und Russland. Mittlerweile wird kaum noch über solche Ereignisse berichtet, wenn sie nicht solche extremen Auswirkungen haben wie die Ahr-Flut beispielsweise.
Und Hitzewellen?
Sie sind der stille Killer. Untersuchungen zeigen, dass im Jahr 2024 rund 60.000 Menschen in Europa als Folge extremer Hitze gestorben sind. Die Zahl nimmt weiter zu. Wir unterschätzen, was da gerade geschieht. Es passiert direkt vor unseren Augen.
Inwiefern ist die Gesellschaft insgesamt betroffen?
Die wirtschaftlichen Folgen werden oft unterschätzt. Diverse Studien zeigen, dass die Weltwirtschaft von einer solchen Erwärmung stark getroffen würde. Mittlerweile geraten viele Geschäftsmodelle in Gefahr. Das Weltwirtschaftsforum hat erst wieder zu Beginn des Jahres darauf hingewiesen. Davon wären auch Ernährungssicherheit und die Versorgung mit Trinkwasser direkt betroffen. Der Klimawandel ist die größte Bedrohung für die Gesundheit der Menschheit. Es wird zu wenig kommuniziert, was es uns heute schon kostet, die aktuellen Folgen der Erwärmung einzudämmen.
Ist der Zug für den Klimaschutz also schon abgefahren?
Nein, auf keinen Fall! Es ist noch nicht zu spät. Das Pariser Ziel von 1,5 Grad werden wir nicht mehr erreichen. Aber wir können die Erwärmung möglicherweise auf etwas über zwei Grad begrenzen. Das wäre schon ein großer Erfolg und würde viele Folgen abmildern.
Was muss im Klimaschutz in Deutschland nun primär passieren?
Im Wesentlichen geht es um Energie. Bei Strom aus erneuerbaren Quellen steht Deutschland bereits recht gut da. Bei der Wärmeversorgung sieht es schlechter aus, und im Verkehr stehen wir aktuell besonders schlecht da.
Die Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG) und die Deutsche Meteorologische Gesellschaft (DMG) haben in einem gemeinsamen Klimaaufruf 2025 davor gewarnt, dass die globale Erwärmung bereits bis 2050 drei Grad erreichen könnte.
Das halte ich für nicht realistisch – das ist ein Worst-Case-Szenario. So schnell wird es nicht gehen. Wichtig ist, jetzt keine Panik zu verbreiten, denn sonst entsteht der Eindruck, dass man nichts mehr tun kann. Zwischen Panikmache und Verharmlosung liegt ein sehr schmaler Grat. Wir müssen den goldenen Mittelweg finden. Drei Grad bis Ende des Jahrhunderts sind jedoch schon wahrscheinlich – und das können wir heute noch verhindern.
Wie ist das zu leisten – indem jeder Einzelne nun aufs Auto verzichtet?
Nein, das Problem ist so groß, dass es nur die Politik lösen kann. Die Crux ist, dass es ein globales Problem ist – eine neue Herausforderung für die Menschheit. Alle Staaten sind gefordert. Doch weltweit sehen wir eine Rückwärtsbewegung, von den USA bis nach Europa und Deutschland, wo Klimaziele aufgeweicht werden. Es ist falsch, die Verantwortung auf die einzelnen Bürger abzuwälzen – das ist wohlfeil. Natürlich kann auch jeder Einzelne etwas tun, aber die Hauptverantwortung liegt bei Politik und Wirtschaft.
Welche Erwartungen haben Sie an die Weltklimakonferenz kommende Woche in Brasilien?
Keine großen. Wenn in den letzten 29 Weltklimakonferenzen nichts Substanzielles erreicht wurde, wird es auch bei der 30. keinen Durchbruch geben. Das kann auch gar nicht passieren, weil UN-Abschlussbeschlüsse einstimmig sein müssen – jedes Land kann blockieren. Die einzelnen Nationalstaaten müssen vorangehen. Es wäre ein verheerendes Signal, wenn Europa beim Klimaschutz nachlässt. Als Kontinent sind wir nach China und den USA der drittgrößte Verursacher von Emissionen. Das ist unsere Verantwortung.
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