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Yuriy Gurzhy vor der Schule Nr. 116 in Charkiw.

© Ihor Nesheret

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (54): Soldat Gleb braucht einen Gehörschutz

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er, wie er den Krieg in der Ukraine verfolgt.

31. Juli 2022
Vor ein paar Tagen fand ich im Karton vor der Tür eines Nachbarhauses eine alte russische Ausgabe von Solschenizyns „Der Archipel Gulag“. Ich blätterte kurz durch und musste an meine allererste Band denken, die sich nach einem im Roman erwähnten sowjetischen Strafgesetzbuchartikel benannt hatte: Der Illegale Übertritt der Staatsgrenze.

Ich kann mich nicht an unsere Songs erinnern, es ist lange her, ich war damals 14 (erstaunlich, dass ich in dem Alter bereits Solschenizyn gelesen habe!). Von der Band überlebten keine Audioaufnahmen – vielleicht auch besser so. Aber in meinem Archiv habe ich noch ein Schwarz-Weiß-Bild, da hat uns jemand auf der Bühne bei unserem einzigen Konzert in Schule Nr. 116 verewigt. Ich spielte an dem Tag Bass, und zwar durch den Verstärker meines Opas, der daran immer seinen Plattenspieler angeschlossen hatte – bis zum Tag unseres Auftritts, danach war er leider nicht mehr zu gebrauchen.

Die Mine tötete zwei Kameraden von Gleb

Rechts von mir auf dem Foto ist Gleb, er hat bei meinen ersten Musikprojekten oft mitgemacht. Gleb war mein Nachbar, als Kinder spielten wir oft zusammen und später entdeckten wir gleichzeitig die Rockmusik für uns. Als ich nach Deutschland zog, haben wir uns aus den Augen verloren, ich habe gehört, er studierte am Medizinischen Institut, hat aber abgebrochen. Dann fanden wir uns wieder und trafen uns bei meinen Ukraine-Besuchen.

Gleb ging es eine Zeit lang nicht gut, aber während der Maidan-Revolution hat er sich neu erfunden, war bei den Protesten in Charkiw dabei, half den Verletzten und hat sich 2014 freiwillig zur Armee gemeldet. Heute früh schrieb er mir nach einigen Monaten wieder: „Bei mir alles gut, bin an der Frontlinie, hatte dieses Jahr bereits zwei Prellungen und zwei leichte Verletzungen am Kopf. Beim zweiten Mal kamen durch die gleiche Mine zwei Kollegen ums Leben.“ Gleb meint, er hat seitdem Hörstörungen und das ist ziemlich ätzend, ob ich schauen könnte, wie teuer die Kapselgehörschützer bei uns wären? Natürlich kann ich, aber gibt es eine bestimmte Marke, der er vertraut, frage ich. Aber Gleb ist jetzt offline …

Abends treffen ich mich endlich mit Taras, den ich genauso wie Gleb seit Jahrzehnten kenne, in Charkiw wohnten wir in der gleichen Straße. Seit drei Wochen ist er in Berlin, mit seiner Frau Anna kommt er mich besuchen. Wir haben uns oft in ihrer Wohnung in unserer Heimatstadt getroffen, es ist ein leicht surreales Gefühl, sie hier zu empfangen.

Wie es zurzeit oft ist in den Gesprächen zwischen Ukrainern, kommen wir irgendwann auf den 24. Februar und wie die beiden den Tag erlebt haben. Anna war im neunten Monat schwanger. Sie erzählt, dass es ihrer älteren Tante in den Tagen davor nicht gut ging und als am frühen Morgen die Tochter das Schlafzimmer betrat und Taras etwas zuflüsterte, war sie sicher, dass es mit der Tante zu tun hätte, dass ihr was passiert wäre. Aber es waren schlechte Nachrichten anderer Art und Anna fiel es unheimlich schwer, sie zu verarbeiten.

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Sie hätte um 10 Uhr eine Untersuchung beim Hausarzt gehabt, würde der Termin jetzt ausfallen oder was? Sollte man am besten wegfahren? Sie, Taras und ihre Tochter verbrachten die nächsten Wochen mit den Nachbarn im Keller ihres Hochhauses und kamen nur ganz selten raus. Von den russischen Panzern auf unserer Straße höre ich an diesem Abend nicht zum ersten Mal, aber sogar nach fünf Monaten kann ich es mir immer noch kaum vorstellen. „Mir geht’s genauso“, sagt Taras, „ich habe es mit eigenen Augen gesehen und glaube es bis heute nicht.“

Er hat irgendwann in Mariupol gearbeitet und hat seitdem einige Freunde dort, die in der Stadt unter der russischen Okkupation geblieben sind. Taras zeigt mir in seinem Handy einen Chat mit einem Ex- Kollegen: „Wir halten durch, was bleibt uns auch übrig … es gibt weder Wasser, noch Gas oder Strom. Aber wir haben einen Brunnen im Hof und ein Nachbar hat mir seinen alten Generator überlassen.“ Seine Frau und Töchter sind geflohen, er konnte nicht weg, jemand muss ja auf das Haus und die Hunde aufpassen, erklärt mir Taras. Ich nicke.

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