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Im "Umsteiger" am S- und U-Bahnhof Yorkstraße strandet es sich gut. Die Alt-Berliner Kneipe feiert 110 Geburtstag.

© dpa

110. Geburtstag: Der Umsteiger: Bordell, Kaschemme, Berufung

Der "Umsteiger" am Bahnhof Yorckstraße wird 110 Jahre alt. Dort zu stranden zahlt sich aus, denn von diesen Alt-Berliner Kneipen gibt es nur mehr wenige.

Hier führt gewöhnlich Dackel Hugo das Regime. Doch heute gibt es im „Umsteiger“ ein Geburtstagsbuffet, da haben Michaela und Hans-Werner Sens ihn lieber zu Hause gelassen. Dort liegt er unterm Sofa und nimmt übel.

Der „Umsteiger“ feiert den 110. Geburtstag. Unter den Yorckbrücken am Aufgang zur S-Bahn nach Lichterfelde steht das schmale Haus aus rotem märkischen Ziegel. Die Kneipe darin wirkt unscheinbar, ist aber weithin berühmt. Seltsamerweise vor allem in Italien. Kein Italiener darf sterben, ohne vorher im „Umsteiger“ gewesen zu sein. Japaner essen hier Eisbein. Amerikanische Touristen wollen die Kneipe am liebsten kaufen und mitnehmen. Doch der Wirt lacht und winkt geschmeichelt ab. Ein paar Jahre will er es noch machen.

Erst Bordell dann Kaschemme jetzt Berufung

Von diesen Alt-Berliner Kneipen gibt es heute nur noch ganz wenige. In den Zwanziger Jahren gab es eine Zwischennutzung als Bordell, da wurden die Damen auf einer Art „Speisekarte“ angeboten, oben unter dem Dach waren zwei Kammern für nähere Bekanntschaft. Im Krieg ist das Haus ohne Schaden davongekommen und seit den Fünfziger Jahren trug die Kneipe wirklich den Namen „Zum Umsteiger“. In den Mauerjahren verkam das Etablissement zur Kaschemme, in der die Säufer an Schulli-Pullen nuckelten.

Auf den 110.! Das Wirtspaar Michaela und Hans-Werner Sens.
Auf den 110.! Das Wirtspaar Michaela und Hans-Werner Sens.

© Johannes Groschupf

Hans-Werner Sens, eingeborener Schöneberger, wollte eigentlich Schauspieler werden, wurde aber Versicherungsvertreter, und als er 2005 hier an der roten Ampel stand, widerfuhr ihm die Erleuchtung: „Damit hörste jetzt auf und machst was anderes!“ Wenig später hat er den „Umsteiger“ übernommen, den Teppichboden rausgerissen, durchgelüftet, neu gestrichen. Er hat seither ein treues Publikum gewonnen, auch weil er abends kleine Veranstaltungen bietet, Lesungen und Sketche aufführt.

S-Bahn-Fachliteratur für Pufferküsser

An den Wänden hängen unzählige Bilder von S-Bahn-Wagen, U-Bahnen und Doppeldeckern, Wimpel und Teller, dazu die obligatorische Glocke für die Runde aufs Haus. Im Angebot sind hausgemachter Eierlikör, Blauer Würger, Appelkorn und Stenkelfelder Pesttrunk. Sie haben eine kleine Bibliothek, darunter „Dichter als Goethe“, die Pfitzmann-Memoiren, S-Bahn-Fachliteratur für Pufferküsser.

Hier treffen sich einmal im Monat ehemalige Reichsbahner, darunter ein 82-jähriger Dampflokführer aus Grunewald. Beliebt ist die Kneipe auch bei Engländern, die in Dahlewitz bei Rolls Royce arbeiten. Straßenbahnfahrer aus Stockholm kommen regelmäßig zu Besuch. Hans-Werner Sens tendiert persönlich eher zu Bussen, und so bekam er von seiner Gattin zum 50. Geburtstag eine Doppeldecker-Übungsfahrt geschenkt. Der BVG-Fahrlehrer lotste ihn nach drei Proberunden hinaus in die Stadt und durch das Brandenburger Tor.

Eins geht noch

Welche Gäste ihnen die liebsten sind? „Die mit Taschen voller Geld!“ In den „Umsteiger“ kommen Arbeiter, Angestellte, Professoren, Opernregisseure, man duzt sich rasch. Ein Stammgast reist treu aus Spandau an und sitzt stets auf dem vierten Hocker am Tresen. Er lobt das Wirtspaar: „Sie kann gut zuhören und auch mal ein Geheimnis bewahren; und er tut und macht.“ Eigentlich wollte er nur mal kurz vorbeikommen, jetzt trinkt er noch eins. „Die meisten brauchen etwa drei Scheidebecher“, sagt der Wirt.

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