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Berlin: 17. Juni 1953: Für manchen Nachbarn ist er immer noch ein Krimineller

Immer wenn es schlimm wird, flüchtet er aufs Wasser. Heinz Grünhagen hat ein Grundstück am Bauernsee, südöstlich von Berlin.

Immer wenn es schlimm wird, flüchtet er aufs Wasser. Heinz Grünhagen hat ein Grundstück am Bauernsee, südöstlich von Berlin. Ein Wohnwagen steht darauf, am Holzsteg schaukelt ein kleiner Holzkahn. Wenn ihn wieder die alten Bilder verfolgen, dann fährt er raus. Er wirft die Angel aus und versucht zu vergessen. "Das Leben hat mich hart gemacht", sagt der 68-Jährige und zieht an seiner Zigarette. Er weiß, dass er wieder zurück ans Ufer muss.

Heinz Grünhagen war Arbeiter im Arbeiter- und Bauern-Staat. Mit 20 Jahren kam er auf eine Baustelle bei Strausberg, da wurden Kasernen für die Nationale Volksarmee errichtet. Sein Stundenlohn betrug 1 Mark 40. Wenn er die vorgegebenen Arbeitsnormen übertraf, gab es noch ein paar Groschen dazu. Grünhagen brauchte jeden Pfennig, denn in den Ost-Berliner HO-Läden kostete ein Pfund Margarine fünf Mark. Doch plötzlich wurden die Normen erhöht, das Geld reichte nicht mehr. Grünhagen und die anderen Bauleute legten die Arbeit nieder. Das war am 17. Juni 1953. Heute, 48 Jahre später, versteht Heinz Grünhagen die Welt nicht mehr. Dass die SPD mit der PDS gemeinsame Sache macht - das empfindet er als Verrat.

Als die Männer ihn holten, hatte er gerade geheiratet. Seine Frau war schwanger. "Kommen Sie mit", sagten die Herren, im Flur legten sie ihm Handschellen an. Er wurde nach Frankfurt / Oder ins Stasi-Gefängnis gebracht. Die Zelle war sechs Quadratmeter groß, vier Bauarbeiter lagen auf einer Pritsche. In der Ecke stand ein Kübel. In der ersten Nacht holten sie ihn raus: "Nummer 45-53. Anziehen und Mitkommen!" Sie machten ihn fertig, Nacht für Nacht. Ein Holzschemel, eine Lampe im Gesicht, und immer diese Fragen: Haben Sie Geld? Wie stehen Sie zum Sozialismus? Wieviel hat Ihnen der westliche Geheimdienst gezahlt? Irgendwann hat er was unterschrieben. Am nächsten Tag begann der Schauprozess. 300 Leute im Saal, ein schweigender Anwalt und ein Urteil. Fünf Jahre Zuchthaus. Am nächsten Tag stand sein Name in der Lokalzeitung. Überschrift: "Das Ende der Provokateure von Strausberg"

Was hatte er getan? Er war doch nur sauer gewesen auf die Funktionäre und die Normerhöhung, wie die anderen 1000 Bauarbeiter von Strausberg auch. Gemeinsam besetzten sie die Laster und Kipper und fuhren durch die umliegenden Dörfer. Grünhagen saß auf dem ersten Wagen, er gehörte zum Streikkomitee. Nach dem Mittagessen - Salzkartoffeln mit Blutwurst und Sauerkraut - wollten sie nach Berlin zur Stalinallee. Sie hatten Forderungen formuliert gegen die Regierung und für die Freilassung der politischen Gefangenen. Doch in Berlin herrschte bereits Ausnahmezustand, die Sektorengrenzen wurden abgeriegelt. In Hoppegarten wurde der Konvoi gestoppt. Bewaffnete Polizisten standen am Schlagbaum, durch das Roggenfeld näherten sich russische Soldaten. Einer zielte mit der Maschinenpistole auf die Streikenden, zog den Lauf nach oben in die Luft und schoss. Da kehrten sie um. Abends fuhr Grünhagen mit dem Fahrrad zu seiner Frau nach Hause. Danach sah er sie nur noch alle drei Monate. Erst nach seiner Entlassung lernte er seine Tochter kennen. Sie konnte schon laufen.

Im Zuchthaus Luckau war er kein Arbeiter mehr. Morgens gab es Frühstück, nachmittags einen Kaffee, vor der Bettruhe Abendbrot. Ansonsten passierte nichts. "Sie haben mir meine Seele kaputt gemacht", sagt Grünhagen. Pro Tag durfte er zwanzig Minuten an die frische Luft, Bärentanz nannten das die Häftlinge. Ein halbes Jahr lang saß er in Einzelhaft. Da versuchte er, sich umzubringen. Am 3. Januar 1957 wurde er entlassen. Es war der Geburtstag von Wilhelm Pieck, dem "Arbeiterpräsidenten".

Er könnte immer so weiter erzählen. Station für Station hat Grünhagen sein Leben geordnet. Die Seele haben sie ihm kaputt gemacht, das stimmt, "aber meinen Verstand haben sie geschärft". Grünhagen freut sich über jeden, der das noch hören will. So wie die Tempelhofer Schüler, die mit ihm durch die Gedenkstätte Hohenschönhausen laufen. Früher war hier auch ein Stasi-Gefängnis, jetzt führen ehemalige Häftlinge durch feuchte Keller und vergitterte Flure. Die Schüler hören Grünhagen geduldig zu, manche stellen Fragen zum Haftalltag. Doch wenn er die Gegenwart beschreibt, schütteln sie heimlich den Kopf.

"Was die Sozialdemokraten jetzt machen, das ist eine Schande", platzt es aus Grünhagen heraus. "Früher saßen die neben mir in der Zelle und heute kungeln sie mit der PDS." Den ganzen Sonntagnachmittag hat er mit seiner Frau auf der Couch gesessen und sich den Berliner SPD-Parteitag angeschaut. Bis zuletzt hat er auf eine andere Entscheidung gehofft. Vor zwei Wochen hat der Bundestag die Renten für Stasi-Mitarbeiter angehoben, eine Opferrente wurde abgelehnt. "Glauben Sie, ich habe für 200 Mark vom Sozialamt gekämpft?", fragt Grünhagen verzweifelt. Seine Stimme stockt. Doch er fängt das Schluchzen ab. Arbeiter weinen nicht.

Es hat sich vieles angestaut. In Strausberg schlägt Grünhagen der Hass alter Genossen entgegen, für manchen Nachbarn ist er immer noch ein Krimineller. Acht Jahre lang hat er für eine Gedenktafel im Ort gekämpft, die an die Proteste erinnern soll. Immer wieder gab es Widerstand dagegen, auf Druck der PDS wurde der Text geändert. Die "Mutigen des Aufstandes" kommen nicht mehr vor. Am Sonntag ist es nun soweit, eine Feierstunde ist geplant. Doch auf der Rednerliste steht auch der stellvertretende Bürgermeister Lothar Nicht, früher SED, heute PDS. "Wenn der spricht, gehe ich", beharrt Grünhagen, "ich stelle mich nicht mit Tätern hin, um die Opfer zu ehren". In Strausberg wird es einen Eklat geben. Wieder einmal.

Was ist eigentlich Zivilcourage? Ein anwesender Schüler meint: "Ich habe keine Lust, mich zusammenschlagen zu lassen, wenn ich jemandem helfe." Grünhagen schaut zu ihm hinüber. Was soll er dazu sagen? Soll er noch mehr Geschichten erzählen? Davon, wie er verhauen wurde, weil er als Kind Butterschmalz gestohlen hatte? Davon, dass er Arbeitsprämien von der SED nicht annahm? Davon, dass er mit einem Kugelschreiber auf eine Holzbank gekritzelt hat: "SED - Wie lange noch?" Nein, Grünhagen erzählt lieber einen Witz. Er handelt vom Staatswappen der DDR. "Der Hammer steht für die Arbeiter, der Zirkel für die Intelligenz, der Ährenkranz für die Bauern. Und die kleinen Nieten im Zirkel - das sind die Parteisekretäre." Die Schüler schauen sich ratlos an, der Klassenlehrer fängt an zu lachen.

Auch Uwe Grünhagen bleibt stumm. Der 39-Jährige kennt den Witz seines Vaters schon. Uwe hat in der DDR eine Ausbildung als Schlosser gemacht, heute ist er arbeitslos. Eigentlich wollte er Hochseefischer werden. Für diesen Traum hat er sich zurückgehalten. "Ich hatte nicht den Arsch in der Hose wie mein Vater", sagt er rückblickend.

Bei der Entlassung vom Wehrdienst gab man ihm einen versiegelten Brief mit. Darin stand, dass sein Vater ein Grenzgänger und Spion sei. Als Uwe Grünhagen das später las, wusste er, dass sein Traum von der See völlig umsonst war.

Heute begleitet er seinen Vater manchmal zum Angeln. Wenn am Sonntag in Strausberg das Denkmal enthüllt wird und der Mann von der PDS das Wort ergreift, fahren sie vielleicht wieder raus. Zurzeit beißen die Aale gut.

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