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Berlin: Ab nach Hause

Wo sie auch stecken – zum Fest kommen sie zurück Das kann auch leicht zu Problemen führen

Von Sandra Dassler

Weihnachten ist Wiedersehen. Das Fest der Familie bedeutet die Aufhebung der Mobilität, auf die der moderne Mensch so stolz ist. Jedenfalls von Januar bis ungefähr Mitte Dezember. Aber dann, spätestens, wenn Chris Rea im Radio zum x-(mas)ten Mal „Driving home for Christmas“ schmachtet, weiß ich, dass es nun bald wieder so weit ist. Und beginne, mich seelisch und moralisch auf das Wiedersehen einzustimmen – und die Zimmer zu verteilen: Tochter, Sohn, Großmutter, Schwiegermutter und alleinerziehende Schwester mit sechsjährigem Sprössling wollen untergebracht sein.

Bei den erwachsenen Kindern ist das leicht. Sie studieren im Ausland, haben aber ihre Zimmer „zu Hause“ behalten wollen. Zwar wird es darin eng, da die aktuellen Lebenspartner jedes Jahr zu Weihnachten mitkommen. Doch westpolnischer Freund und nordnorwegische Freundin bewahren uns zumindest vor der Illusion, alles sei wie früher.

Meiner Nachbarin hingegen muss immer weinen, wenn sie erzählt, dass ihre Tochter Weihnachten wieder einmal zu Hause sein wird. Das Mädchen war ihr Lebensinhalt, kürzlich ist es weggezogen. Meine Nachbarin hat das nicht verkraftet. Das sei keine Ausnahme, sagt der Berliner Familientherapeut Peter Thiel: „Auch wenn es normal ist, dass Kinder flügge werden, müssen viele Eltern mit der neuen Situation erst fertig werden. Alleinerziehenden fällt es besonders schwer, loszulassen. Und viele Paare stellen fest, dass mit den Kindern auch das, was sie jahrelang verband, verschwunden ist.“

In Deutschland sei es eher unüblich, darüber zu sprechen, sagt Thiel. Anderswo gibt es Internetforen, Selbsthilfegruppen und eine extra Bezeichnung für Eltern, deren Kinder das Nest verlassen haben: Empty Nesters. Hier kennt man die nur aus dem Marketing – als Zielgruppe. Meine Nachbarin hat Bücher über das „Empty-Nest-Syndrom“ gelesen, sich den Spruch: „Gib’ kleinen Kindern Wurzeln und großen Kindern Flügel“ an den Spiegel geklemmt und ist am 1. Advent nach Wien gefahren. Dort hat sie ein Seminar für „verlassene“ Eltern besucht, die sich auf Weihnachten in ihrer neuen Rolle einstimmen wollten. So was gibt’s.

Sie weiß nun, dass sie ihre Tochter nicht mit Liebe erdrücken darf, wenn sie Weihnachten nach Hause kommt. Und dass man Menschen, die weit weg sind, oft glorifiziert. Dass die plötzliche Nähe aggressiv machen kann. Und dass sie nicht zu viel Harmonie erwarten soll.

Aber das gilt für jedes Weihnachten in der Familie. Bei uns folgt der Freude über das Wiedersehen alle Jahre wieder die Erkenntnis, dass es nicht einfach ist, die Interessen unter einen Hut zu bekommen – spätestens nach der Bescherung: Der Sechsjährige will die Eisenbahn aufbauen, die Großmutter Lieder singen, die Schwiegermutter „Sturm der Liebe“ schauen, während die Kinder „Das Leben des Brian“ bevorzugen.

Deshalb ist es wichtig, dass sich alle bei Bedarf zurückziehen können: Großmutter in die Dachkammer, Schwiegermutter ins Arbeitszimmer, wo ein zweites Fernsehgerät steht, Schwester mit Sohn ins Schlafzimmer. Mein Mann und ich sind die Einzigen, die keinen Rückzugsraum mehr haben. Darum gehen wir stets am 26.Dezember arbeiten. Und sind an diesem Tag besonders glücklich, unsere Kollegen wiederzusehen.Sandra Dassler

Hilfe bei Konflikten gibt es beim Berliner Krisendienst, der auch Weihnachten rund um die Uhr unter den Nummern 39063-10 bis -90 erreichbar ist. Informationen auch unter www.kind-familie.de

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