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Altenpflege: Lebensabend in der zweiten Heimat

Vor einem halben Jahr wurde in Berlin-Kreuzberg das erste türkische Altenpflegeheim Deutschlands eröffnet. Ziya Bircan zog gleich ein.

Er ist der King der Gruppe, der coole Typ. Er braucht keinen Rollstuhl und kann fließend Deutsch. Heute hängen jedoch tiefe Ringe unter seinen Augen, die Lippen sind dunkelrot angelaufen. Ziya Bircan ist Dialysepatient und muss regelmäßig sein Blut „waschen“ lassen. Aber darüber will er jetzt nicht reden. Lieber will er erzählen, wie er hier im Türk-Huzur-Evi-Altenpflegeheim gelandet ist.

Im Aufenthaltsraum steht ein heller Holztisch mit hellen Holzstühlen. Die Einrichtung erinnert ein wenig an eine Jugendherberge, wären nicht hier und da ein paar orientalische Accessoires: ein Samowar, ein bunter Teppich oder ein Gebetsraum gen Mekka.

Um sein neues Zuhause angemessen zu repräsentieren, hat Herr Bircan sich in Hemd und Stoffhose herausgeputzt. Die anderen Heimbewohner schlurfen in Jogginganzügen und Alltagsklamotten herum. Sie blicken aus dem großen Freizeitraum neugierig herüber. Als liebevoller Platzhirsch dirigiert der 73-Jährige sein Umfeld: „Geh bitte mal raus, wir haben hier zu tun“, sagt er zu einem trägen Mitbewohner, und zur Angestellten: „Biete unserem Besuch doch Tee an.“

Senior Bircan pflegt seine türkischen Gewohnheiten. Das soll er auch. Dafür ist das „Türk Huzur Evi“ vorgesehen, das Haus des türkischen Seelenfriedens. Etwa ein halbes Jahr ist das einzige türkische Altenpflegeheim in Deutschland in Betrieb. Hier wohnen ehemalige „Gastarbeiter“, die ihren Lebensabend in Deutschland verbringen, die oft nur für kurze Zeit nach Deutschland gehen wollten und trotzdem nie heimgekehrt sind.

Das Kreuzberger Pflegeheim hat Platz für 171 „Dauergäste“. Statistisch gesehen müsste die Einrichtung vor Anmeldungen überquellen. Schon heute sind 237 000 Türken in Deutschland über 60 Jahre alt. Bisher nutzen jedoch nur 27 Bewohner die orientalische Altenpflege. Sie kommen aus Berlin, Ulm und Bielefeld. Einrichtungsleiterin Nejla Kaba-Retzlaff erklärt sich das so: „Altersheime sind unter Türken noch ein Tabuthema“. Sie ist selbst als Kind aus der Türkei gekommen und kennt ihre Landsleute. Für viele gehören die Senioren traditionell zur Großfamilie und sind Respektspersonen. Hinzu komme sozialer Druck: Nachbarn und Bekannte hätten kein Verständnis dafür, wenn die Alten im Heim landeten. Den Familien ist das meist peinlich.

Harte Arbeit und psychische Belastungen haben jedoch dazu geführt, dass viele ältere Türken auf Pflege angewiesen sind. „Demenzkrankheiten sind besonders häufig“, sagt Nejla Kaba-Retzlaff. „Doch die Familien wissen oft gar nicht, welche Pflege-Angebote es gibt.“

Die Heim-Chefin arbeitet daran, dass das anders wird. Wenn eine Familie sie um ihre Einschätzung bittet, macht sie einen Hausbesuch und berät die Angehörigen persönlich bei einem Glas Tee. Trotz ihres Engagements wird sie wohl warten müssen, bis die wirksamste Reklame durchgreift: Die Mund-zu-Mund-Propaganda. Vertrauen in der türkischen Community erreiche man vor allem dann, wenn sich in Kreuzberg und Neukölln herumspreche, dass es den Senioren in der Einrichtung gut gehe.

Beobachtet man Ziya Bircan, scheint es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis das geschieht: Er fühlt sich hier sichtlich wohl, trinkt Tee und scherzt mit der Einrichtungsleiterin, wenn sie nach ihm sieht. Bircan ist einer der Pioniere, die sich im türkischen Altenheim angemeldet haben. Anders als das Haus, hat er jedoch eine lange Geschichte.

Pionier war er schon öfter. Mit 24 Jahren verkaufte Ziya Bircan seinen Kiosk in Ankara und reiste ohne Arbeitsvertrag nach Deutschland. Im hessischen Neu-Isenburg fand er einen Job. „An meinem ersten Arbeitstag kam ich mit Anzug und Krawatte“, sagt er und lacht über seine verjährte Naivität – er arbeitete in einer Elektromotoren-Fabrik. Abends Deutschkurse besuchen und manchmal zum „Ball der einsamen Herzen“ gehen – das war sein Leben. Bis sich Bircan beim Tanzen in eine Berlinerin verliebte und ihr in die geteilte Stadt folgte. Die Liebe hielt nicht. Sein Aufenthalt in Berlin dagegen bis heute. Eines Tages las er in einer Zeitungsanzeige: „Coca-Cola Lichterfelde sucht türkischen Dolmetscher“. Bircan bewarb sich und wurde eingestellt.

Von nun an übersetzte er nicht nur am Arbeitsplatz. Er wohnte in einem Türken-Wohnheim des Betriebs und half bei allen Berührungspunkten zwischen Gastarbeitern und der deutschen Gesellschaft: Formulare, romantische Briefe, Einkaufszettel. „Das war nicht einfach“, sagt der Ex-Dolmetscher. Irgendwann bot er seinen Chefs an, ihre Cola an die – inzwischen zahlreich gewordenen – türkischen Imbissbuden zu vertreiben. Über den Aufstieg zum Vertreter in Kreuzberg freut sich Bircan noch heute.

Nach 30 Jahren in Deutschland wurde er jedoch arbeitsunfähig – Herzinfarkt. Letztes Jahr folgten eine Lungenentzündung und sechs Wochen Wachkoma. „Ich habe geträumt, ich sei die ganze Zeit in Istanbul“, sagt er. Im Dezember 2006 wurde er in ein deutsches Altersheim verlegt, ohne sein Einverständnis. In den Abendnachrichten sah der Kranke die Eröffnung eines türkischen Altersheims. Er ließ sich hinfahren und beschloss, im Türk Huzur Evi einzuziehen. Warum? „Hier ist alles neu, die Leute sprechen Türkisch und sind mir sympathischer.“ Und: „Kurz nach meinem Einzug wurde türkisches Fernsehen eingerichtet.“

Tagsüber trinkt er nun Tee, sieht fern oder bei den anderen nach dem Rechten. Seit neuestem ist er Vorsitzender des Pflegeheim-Beirats. Dennoch: „Wenn ich wieder gesund bin, mache ich mich selbstständig“, sagt er bestimmt. Alt werden will er hier dennoch nicht.

Ferda Ataman

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