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Berlin: Analphabetismus: Abgeschrieben

"Ich habe echt gedacht, ich bin ein Niemand.", gibt die 19-jährige Yvonne zu und erinnert sich, dass sie erstmals im gerade erfolgreich absolvierten 12-monatigen Alphabetisierungskurs völlig frei von der Angst war, wegen ihrer Fehler ausgelacht zu werden.

"Ich habe echt gedacht, ich bin ein Niemand.", gibt die 19-jährige Yvonne zu und erinnert sich, dass sie erstmals im gerade erfolgreich absolvierten 12-monatigen Alphabetisierungskurs völlig frei von der Angst war, wegen ihrer Fehler ausgelacht zu werden. Yvonne gehörte zu den vier Millionen Erwachsenen in Deutschland, die sich gar nicht oder nur ungenügend schriftsprachlich verständigen können. "Es ist leider wahr, aber Analphabetismus ist in Deutschland ein ernst zu nehmendes Problem", sagt Peter Hubertus, Geschäftsführer des Bundesverbandes Alphabetisierung e.V. in Münster, vor dem morgigen internationalen Alphabetisierungstag "Literacy Day". Die Unesco schätzt die Zahl der erwachsenen Analphabeten allein für die alten Bundesländer auf drei Millionen - etwa fünf Prozent der Gesamtbevölkerung. "Manche können gerade so ihren Namen schreiben, andere können gar nichts", sagt Hubertus.

Schon in der Grundschule wurden bei Yvonne eklatante Defizite im Lesen und Schreiben offenbar. Doch trotz permanenter Sechsen in Deutsch und größter Schwierigkeiten in Mathematik wurde sie stets "aus pädagogischen Gründen versetzt und mitgeschleppt". Bis schließlich in der 8. Klasse eines Internats Endstation war: "Weil ich einfach nicht mehr zur Schule gegangen bin und total bockig war." Yvonne kam nach Berlin zurück, rutschte in die Drogen-Szene, landete in einer Beziehung, die sie rückblickend als "Hölle" tituliert, und wurde schwanger. Ein heilsamer Schock für die damals 17-Jährige: "Wenn ich mein Kind nicht hätte, das ich alleine und hoffentlich gut erziehe, würde ich wohl immer noch Drogen nehmen und vom Sozialamt leben." Die Lese- und Rechtschreibprobleme gerieten in den Hintergrund. Sämtlichen Schriftverkehr oder das Ausfüllen von Formularen übernahm die Mutter des Teenagers. Die Tagebuch-Eintragungen waren nur für ihre eigenen Augen bestimmt und mussten keinem korrekturwütigen Rotstift standhalten. Und daran, dass Freundinnen ihre vor Fehlern strotzenden Briefe nicht selten berichtigt zurückschickten, hatte Yvonne sich längst gewöhnt. Scham ist ohnehin nur bei Leuten, mit denen sie nicht befreundet war, angesagt gewesen.

Erst als die inzwischen Volljährige samt Sohn in ein Mutter-Kind-Projekt zog und den Hauptschul-Abschluss nachholen wollte, meldete sich das Bewusstsein für eigene Defizite massiv zurück: "Nach einem Test teilte man mir mit, dass meine Leistungen zu schlecht seien, und riet mir, zunächst einen Alphabetisierungskurs zu machen." Anschließend, stellte man ihr in Aussicht, könne sie sich erneut für die Hauptschule prüfen lassen. Davon hat sie nun jedoch Abstand genommen und lässt dem Jahr bei "Lesen und Schreiben", das nicht nur zu einer "bombastischen Verbesserung" im Schriftsprachlichen geführt hat, sondern ebenso zu neuem Selbstvertrauen, lieber eine Ausbildung zur Altenpflegehelferin folgen. "Mit fast 20 möchte ich endlich Geld verdienen - auch, um meinem Sohn etwas bieten zu können.", sagt sie, wohl wissend, dass sie es immer schwerer haben wird als andere, weil "jemand ohne Schulabschluss in der Gesellschaft gleich unten durch ist." Und für alle, die nicht richtig lesen und schreiben können, sei es noch schlimmer.

Seit 15 Jahren bietet der Verein "Lesen und Schreiben" Alphabetisierungskurse für Erwachsene an. Er veranstaltet heute im Herrnhuter Weg 16 in Neukölln einen Tag der offenen Tür (Info-Telefon: 6874081).

Maren Sauer

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