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Berlin: André Gey (Geb. 1970)

„Wenn ich mal groß bin, dann heirate ich Grit und bin Architekt.“

André fährt. Über deutsche Autobahnen, französische, hält nur gelegentlich an, für einen Kaffee, Benzin, fährt weiter, vorbei an Paris, entlang der Seine, bis es nicht mehr weiter geht, sie in den Ärmelkanal fließt, bei Le Havre, fährt vorüber an den Werften, Hochhäusern, Industrieanlagen, hält an. Er steigt aus dem Auto, läuft über eine Wiese, bis zum Rand der Steilküste, und setzt sich auf eine Bank. Er sitzt und raucht und schaut in den Himmel, auf das Wasser. Steht am Abend auf, sucht ein Zimmer, isst etwas, schläft. Verlässt die Pension am nächsten Tag zeitig, steigt wieder ins Auto, fährt, über französische Autobahnen und deutsche, zurück nach Berlin.

„Wenn es ihm nicht gut ging“, sagt Grit, „fuhr er nach Le Havre.“ Warum Le Havre, das weiß sie nicht. Er mochte den Blick von dieser Bank, den Weg dorthin, mit dem Auto, allein.

Sich bewegen, das ist eine Vorstellung, die André mit sich trägt, seit er sich erinnern kann. Fragen die Erwachsenen das Kind: „Was möchtest du mal werden?“, antwortet es: „Pilot!“, immer, ohne Zögern. Also schicken die Erwachsenen das Kind auf einen Flugplatz in der Nähe Berlins, wo es seine Nachmittage verbringt. Oder es zeichnet, Flugzeuge, Luftschiffe, Ufos. Bis zur achten Klasse träumt André den Pilotentraum, dann sagen die Ärzte, er könne nicht gut genug sehen und hören. André hört Hip-Hop, tanzt Breakdance, auf der Straße, auf dem Alexanderplatz, verliebt sich in Grit, ein Mädchen aus Adlershof, das vier Wochen später nicht mehr mit ihm zusammen sein möchte. Er färbt seine Haare orange. Die Lehrer erteilen ihm einen Tadel, bestimmen, dass er erst dann wieder in die Schule kommen darf, wenn die Frisur weg ist. André rasiert sich eine Glatze. Und erhält einen zweiten Tadel.

„Wenn ich mal groß bin“, wird er Jahre darauf einer Freundin anvertrauen, „dann heirate ich Grit und bin Architekt.“ Zunächst lernt André Werkzeugmechaniker. Und verpflichtet sich zu drei Jahren Armee. „Wegen der Flugzeuge“, sagt er, „hab ich da mitgemacht.“ Hat er sich ein- und untergeordnet, kalte dumme Befehle ausgeführt, eingeschlossen in eine Kaserne in Peenemünde. Am 4. November 1989 demonstriert in Berlin eine halbe Million Menschen für die Meinungsfreiheit. Die Offiziere in Peenemünde rennen betrunken über das Flugfeld, schießen in die leer stehenden Maschinen und schreien: „Alles vorbei!“

André läuft in Uniform vom Gelände, fährt mit dem Zug nach Berlin, holt zu Hause in Adlershof seinen alten Personalausweis, fährt weiter, in den Süden, in die Tschechoslowakei, dann nach Bayern.

Freiheit also. Möglichkeiten haben, nutzen. Oder vor der Vielfalt stehen und benommen sein. Durch die Jahre torkeln, wie so viele, im Kopf Pläne, verrückte und auch erreichbare. Trotz der Pläne vor sich hin leben, irgendwie. Obst und Gemüse auf einem Markt verkaufen, Fotomaterial, am Tage schlafen, in der Nacht durch die Stadt ziehen, alte Motown- und französische Easy-Listening-CDs sammeln, nachdenken und stundenlange Gespräche führen, wie Kosmonauten sich abwechslungsreicher ernähren könnten, nicht von den immer gleich schmeckenden Pasten, es muss doch möglich sein, eine Kohlroulade in eine Tube zu bekommen. Sich gründlich und mit Hingabe Dingen widmen. Dingen, die anderen nicht relevant erscheinen.

Als vereinigte André zwei vollständige Personen in sich. Die eine lebt nach selbst aufgestellten Regeln in einer Welt, in der es Wirklichkeit, was immer das sein mag, nicht gibt, die andere, die in der wirklichen Welt existiert, vollbringt viel und mehr noch als die meisten. Er holt sein Abitur nach, zeichnet fortwährend, malt, bewirbt sich um einen Studienplatz für Architektur, 1500 Anwärter auf 50 Plätze. André bekommt einen. Und dann bemüht er sich Wochen, den russischen Film „Roboter im Sternbild Kassiopeia“ aus dem Jahr 1975 zu beschaffen, findet ihn, lädt Freunde ein zum Kinoabend bei Pelmeni, Schwarzbrot und Wodka. Oder er streicht seine Diele vier Mal, bis das Gelb so ist, wie er es sich vorgestellt hat. Oder er kauft rare Armbanduhren, trotz beträchtlicher Schulden, ohne je die Zeit von ihnen abzulesen. Und zahlt bei keiner Krankenkasse ein.

Versuch, sagen die Leute, ist kein Wort für André, Perfektion vielmehr. Auf einem Spaziergang mit einem Freund weist er auf eine Fassade – „Guck mal dort, der Fenstersturz“ – und hält einen Vortrag über die Kulturgeschichte des Fenstersturzes. Oder er entdeckt die Ausschreibung für ein Hochhauses am Alexanderplatz, sitzt Nächte am Computer, erarbeitet zahllose Variationen eines Entwurfs. Nur für sich.

Er erfährt von seiner Schilddrüsenkrankheit. Die Fäden gleiten ihm aus der Hand, er öffnet weder Rechnungen noch Mahnungen, eines Tages steht der Vermieter mit Möbelpacker vor der Tür.

Ein Kind, das sich die Hände vor das Gesicht hält und glaubt, es sei unsichtbar. Wenn ich mal groß bin … Als hätte er einen Witz erzählt, über den er selbst am bittersten lachen muss.

Jedoch wird ein Teil seiner Vorankündigung Wirklichkeit: André trifft Grit. Und jetzt bleiben sie beieinander. Es ist, als könne André innehalten, ausruhen, endlich. Er arbeitet regelmäßig zusammen mit einem Freund in einer Firma, die Bühnenbilder und Studiobauten entwirft. Er sieht gut aus, gesund, nicht mehr mager und abgekämpft, sagt, die Krankenversicherungsprobleme seien geklärt, alle glauben ihm.

Am 1. Januar 2009 stirbt André.

Le Havre existiert, die Steilküste, die Wiese auch. Vielleicht aber steht dort keine Bank. Tatjana wulfert

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