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Berlin: Annette Mohrmann (Geb. 1981)

Doch mit dem Reisefieber ist es wie mit der Malaria.

Schmeiß die Möbel aus dem Fenster, wir brauchen Platz zum dancen! So sang Deichkind und Tette sang mit.

Sie kam aus Bad Iburg bei Osnabrück, sie wohnte in Prenzlauer Berg und arbeitete an der Rezeption vom „Generator“, einem riesigen Hostel für Rucksacktouristen an der Landsberger Allee. Auf den langen, blonden Haaren eine Schiebermütze, freundliche, braune Augen: Tette.

Am liebsten waren ihr die Spätschichten, da konnte sie hinterher mit ihren Kollegen gleich weiterziehen in die Nacht. Kollegen: ein Wort, das Tette wohl kaum benutzt hätte. Freunde waren das. Freunde, die nicht nur den gleichen Job machten, sondern ähnlich aufs Leben schauten wie sie, also wie Deichkind: Wir woll’n doch was erleben!

Keine Jüngerin der Leistungsideologen, Karriere klang für sie eher nach Drohung als nach Verheißung. Arbeiten, auf eigenen Füßen stehen, das schon, das war etwas Gutes, darum hatte sie ja auch gleich nach dem Abitur eine Ausbildung zur Reiseverkehrskauffrau gemacht. Zufrieden waren die Ausbilder mit Tette, mit Tette musste man zufrieden sein. Fröhlich war sie und eine, auf die man sich verlassen konnte. Ein Sonnenmensch, und darum auf die Dauer nicht gut aufgehoben im Büro, wo die Sonne nur indirekt hineinscheinen darf.

Also tat Tette, wozu ihr Beruf sie aufforderte: Sie begab sich in den Reiseverkehr. Besorgte sich ein „Work-And-Travel“-Visum, packte ihren Rucksack und flog zu Arne, der gerade in Australien herumreiste.

Arne kannte sie seit der fünften Klasse, Arne war ihr Liebster und ihr Seelenbruder, der vordere Teil von Arnette. In Australien zerfiel dies Wesen wieder in zwei Einzelmenschen, die vor allem eins genießen wollten: ihre Freiheit. Tette ließ ihn gehen.

Ein tapferes kleines Mädchen war sie, erzählen die Eltern. Eines, das bei aufgeschlagenen Knien oder beim Tod ihrer Maus lieber in sich hineinweinte, als sich anderen in die Arme zu werfen. Das alle Automarken kannte und sich von den großen Jungs nicht einschüchtern ließ. Das nicht nur vorgelesen bekommen wollte, sondern selbst Geschichten schrieb. Tette war stark, und dafür wurde sie von ihren Freundinnen bewundert.

Wenn sie später von ihrer großen Reise erzählte, dann sprach sie weniger vom Verlust ihrer ersten Liebe als von der großen Backpacker-Gemeinschaft, die sie kennengelernt hatte und ohne die sie fortan nicht mehr leben wollte. Sie teilte dieselbe friedliche Gesinnung: Die Welt durchstreifen mit keinem anderen Ziel, als sie kennenzulernen und unter einer warmen Sonne das Leben zu feiern.

Tette erntete australische Äpfel und Trauben, sortierte Bananen, war Verkäuferin im „Toyland“, DJane auf Schulbällen und auf dem Rummel. Sie lebte in Hostels, lernte Studenten aus der ganzen Welt kennen, Aborigines und verschrobene australische Farmer. Für alles und alle brachte sie eine ansteckende, kindliche Begeisterung auf.

Arne lebte wieder in Deutschland, also auf der anderen Seite der Welt. Doch die Verbindung mit einer so freundschaftlichen Seele wie Tette ließ sich nicht einfach abbrechen. Tette empfing Nachrichten, von denen Arne gar nicht wusste, dass er sie gesendet hatte. Dann klingelte etwa in einer Nacht, in der er vor Kummer keinen Schlaf finden konnte, sein Telefon, aus dem Hörer klang ihre verlegene Stimme: „Ich hatte das Gefühl, dass ich mich melden muss.“ Ein anderes Mal war er es, der in einer plötzlichen Eingebung ihre Handynummer wählte. Da saß sie gerade am Strand und fühlte sich elend.

Nach 15 Monaten war das Visum abgelaufen. Tette beschloss, dorthin zu ziehen, wo ihre große Schwester wohnte, dorthin, wo überhaupt sehr viele Menschen wohnten, mit denen es sich leben ließ: nach Berlin. Wenn sie nicht gerade mit den drei Jungs aus ihrer WG zusammensaß oder am Rezeptionstresen des „Generator“ ihr Geld verdiente, dann sprang sie durch den Mauerpark, räkelte sich auf dem Badeschiff, tanzte auf den Konzerten ihrer Lieblingsbands, zog durch die Clubs und die Bars.

Den Kontakt zur Bodenstation hat sie nie unterbrochen. Oft holte sie ihre Nichte vom Kindergarten ab, legte die Hand auf den Bauch der Schwester und freute sich auf den Neffen. Die Nummer ihrer Eltern hatte sie unter „home sweet home“ gespeichert, ihren alten Freunden aus Bad Iburg blieb sie die Ratgeberin und Muntermacherin.

Berlin war ihr zur Heimat geworden. Doch mit dem Reisefieber ist es wie mit Malaria: Wer einmal davon geschüttelt wurde, bekommt es in Schüben immer wieder. Manchmal träumte Tette zusammen mit Arne von einer Zukunft in einem wärmeren, paradiesähnlicheren Land. Hawaii vielleicht. Sie könnten dort ein Hostel eröffnen. Nur so, als Freunde natürlich. Feierabends in einer Hängematte liegen, nichts als ein paar nette Palmwedel über sich, und ein gutes Buch lesen … „Nachtzug nach Lissabon“ war ein Buch, das Tette unter gut einstufte. Auch so ein Abenteurer, der in einer fremden Welt etwas Unbestimmtes sucht.

Es war dunkel und kalt. Tettes Schicht im „Generator“ war beendet, sie verschickte noch schnell ein paar Nachrichten auf „Studi-VZ“, dann machte sie sich auf den Heimweg in ihre erste eigene Wohnung, die sie vor wenigen Monaten bezogen hatte. Am S-Bahnhof Greifswalder Straße sah sie ihre Tram kommen und stürmte über die Gleise. Dabei übersah sie die Straßenbahn, die aus der Gegenrichtung angefahren kam.

Tettes Abschiedsgruß, da sind alle sich einig, hätte so geklungen: „C ya!“ Anne Jelena Schulte

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