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Berlin: Auf einem Bahngelände in Friedrichshain zieht Leben ein

Die hohe rote Backsteinmauer entlang, dann durch das denkmalgeschützte Eingangsportal zehn Stufen hinunter. Der erste Blick auf das ehemalige Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) in der Revaler Straße: ein morbides Industrie-Idyll, 10 000 Quadratmeter groß.

Die hohe rote Backsteinmauer entlang, dann durch das denkmalgeschützte Eingangsportal zehn Stufen hinunter. Der erste Blick auf das ehemalige Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) in der Revaler Straße: ein morbides Industrie-Idyll, 10 000 Quadratmeter groß. Überwucherte Gleise, ein trocken gelegter Brunnen, verrostete Metallgestänge auf dem Boden. Direkt neben den riesigen leeren Werkshallen, neben den Backsteingebäuden mit den zerbrochenen Fenstern wachsen Tannen und Kiefern, blüht die Schafgarbe. "Wir hatten sofort das Gefühl, hier sind wir in einer anderen, friedlichen Welt", begeistert sich Bibiena Houwer.

Das Gelände, in dem zu DDR-Zeiten Tausende Eisenbahner gearbeitet hatten, war seit Jahren verlassen und verfiel zusehends. Im vergangenen Jahr gründeten Houwer und ihre Freundin Carola Ludwig deshalb den Verein "RAW-Tempel". Ihr Ziel: Auf dem Gelände soll bis zur endgültigen Sanierung "eine Stadt in der Stadt wachsen", eine Mischung aus Jugend-, Kultur- und Sozialprojekten. "Raw" (Englisch für: roh) stehe dabei auch für den unfertigen Charakter des Projektes, so die 38-jährige Houwer.

Rund 25 Gruppen haben sich bereits niedergelassen, weitere 50 Initiativen stehen auf der Warteliste. Musikbands sowie eine Sambaschule proben hier, eine Ideenwerkstatt für Formen alternativer Arbeit hat sich eingerichtet, mehrere Fotoausstellungen werden vorbereitet. Ein Archiv soll die Geschichte des RAW dokumentieren. In die frühere Berufsschule möchte eine Kita einziehen. Und die Pläne der Vereinsmitglieder gehen noch weiter. "Wenn wir die Genehmigungen haben, wollen wir in den Hallen richtige Veranstaltungen abhalten, große Theaterprojekte und Konzerte", blickt Bibiena Houwer in die kulturelle Zukunft. Dabei ist ihr klar, dass dieses Projekt zeitlich begrenzt sein wird. Die Zwischennutzung sei ihnen für zwei bis drei Jahre zugesagt worden. "Aber wir hoffen natürlich darauf, dass sich so schnell kein Investor findet und wir hier fünf oder zehn Jahre bleiben können." Das Gelände gehört der Eisenbahnimmobilien Management GmbH und wird von einer Allianz-Tochter verwaltet. Als Mieter und Vermittler ist der Bezirk eingesprungen, dem daran gelegen ist, die Brache nicht ungenutzt verfallen zu lassen. Noch erhält das Projekt keine Zuschüsse, aber die Bedingungen sind günstig: Der Verein muss nur für die Betriebskosten aufkommen. Für die Projekte bedeutet das Quadratmeterpreise zwischen 1,20 Mark und 1,80 Mark pro Monat.

Momentan haben die Kiezkünstler noch mit profanen Problemen zu kämpfen. Das RAW war nie an das öffentliche Versorgungssystem angeschlossen, es fehlt an Strom, Wasser und Toiletten. Rund 20 ständige Bewohner soll die "neue Stadt" einmal beherbergen, fünf sind es schon. Wie Bibiena Houwer haben sie Hausmeister- und Koordinationsaufgaben übernommen und wohnen deshalb fast kostenlos dort. Duschen müssen sie zurzeit unterm Wasserschlauch im Gebüsch. Projektleiterin Houwer ist sich bewusst, dass der Winter die Experimentierlust der Bewohner auf die Probe stellen wird. "Wir sollten jetzt schon mal anfangen, Holz zu hacken - und viel Tee mit Rum besorgen", sagt sie nur halb im Spaß.

Ulrike Groppe

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