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Berlin: Auf verlorenem Posten

Der menschliche Faktor Herr Scholz ist der letzte Schrankenwärter Berlins. Seit 25 Jahren ist Herr Scholz bei der Bahn.

Der menschliche Faktor Herr Scholz ist der letzte Schrankenwärter Berlins. Seit 25 Jahren ist Herr Scholz bei der Bahn. Hat sich nie was zu Schulden kommen lassen. Macht seine Arbeit vornehmlich deshalb, weil es Geld dafür gibt. Und plötzlich ist Herr Scholz der letzte Schrankenwärter Berlins und folglich ein Medienereignis. Als er heute Morgen davon erfuhr, war es schon zu spät zu sagen: Nee, lass das mal ’nen andern machen.

Genau genommen gibt es nämlich nicht nur einen letzten Schrankenwärter, sondern gleich sechs. Aber alle sechs arbeiten am letzten manuell betriebenen Bahnübergang der Hauptstadt, dem „Posten 6“ am Ruhwaldweg in Charlottenburg.

Dort fahren täglich an die 40 Güterzüge auf dem Weg nach Hamburg durch. Wenn einer kommt, klingelt im Wärterhäuschen ein klobiges Telefon, auf dem noch das Kürzel DR für Deutsche Reichsbahn prangt. Das Klingeln heißt eigentlich Zugmelderuf. Herr Scholz muss dann schnell raus an die Kurbelwinde, die per Seilzug die Schranken in die Waagerechte zieht.

Dann geht er wieder rein, ruft die Fahrdienstleitung an und meldet: Schranke geschlossen. Dann geht er wieder raus und wartet, bis der Zug durch ist - Zugabschluss heißt das. Schranken wieder hochkurbeln, rein ins Häuschen und den Zug ins Logbuch eintragen.

Fertig. Nun wartet der Wärter auf den nächsten Zug. Das heißt: Warten im Ursinn, also nichts tun außer warten. Wegen der hohen Verantwortung darf Herr Scholz keine Zeitung lesen, kein Radio hören und schon gar keine privaten Telefongespräche führen. Man könnte sich jetzt vorstellen, dass so viel Warten im Ursinn auf die Dauer an den Nerven zerrt. An Herrn Scholzens Nerven zerren jetzt aber nur die Journalisten. Oder er hat gar keine.

Eigentlich ist Herr Scholz nur so eine Art Teilzeit-Schrankenwärter, und das auch erst seit Januar. Sonst arbeitet er auf dem Stellwerk. Sein Chef sagte, er solle sich mal zum Schrankenwärter fortbilden lassen. Und Herr Scholz fügte sich. 14 Tage dauerte die Ausbildung. Die technischen Handgriffe sind schnell erlernt – im Mittelpunkt steht deshalb ein psychologischer Test. Der menschliche Faktor ist beim Schrankenwärterdienst eben der entscheidende.

Herr Scholz möchte sein Privatleben schützen, deshalb sagt er seinen Vorn lieber nicht. Nur so viel: Er kommt aus Reinickendorf und hatte früher mal eine Modelleisenbahn. Wer daraus seine Schlüsse ziehen möchte – bitte. Herr Scholz, der wegen der vielen Fotografen langsam ein wenig erschöpft wirkt, behauptet standhaft, er habe einfach einen Job haben wollen und bei der Bahn hätten sie ihm einen gegeben.

Wie lange er noch im Schrankenwärterhäuschen wie in einem Schrankenwärterhäuschenmuseum sitzen wird, weiß er nicht, weiß keiner zurzeit. Herr Scholz tut seine Pflicht – alles Spekulieren lenkt nur ab. Eisenbahnernostalgie ist was für Pufferküsser.

Thomas Loy

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