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Berlin: Aufbruch oder Abbruch? (Leitartikel)

Als Abgang à la Lafontaine wird der überraschende Rücktritt der Berliner Kultur- und Wissenschaftssenatorin Christa Thoben inzwischen bei ihren Parteifreunden in der CDU kritisiert. Und gegen erste Einschätzungen, die aus der Bundespolitik eingeschwebte Senatorin sei allein am Berliner Beton zerschellt, verwahrte sich in der gestrigen Debatte des Berliner Abgeordnetenhauses auch die mitregierende SPD.

Als Abgang à la Lafontaine wird der überraschende Rücktritt der Berliner Kultur- und Wissenschaftssenatorin Christa Thoben inzwischen bei ihren Parteifreunden in der CDU kritisiert. Und gegen erste Einschätzungen, die aus der Bundespolitik eingeschwebte Senatorin sei allein am Berliner Beton zerschellt, verwahrte sich in der gestrigen Debatte des Berliner Abgeordnetenhauses auch die mitregierende SPD. Nicht nur der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU), auch Berlins SPD-Fraktionsvorsitzender Wowereit ging dabei auf Kollisionskurs gegenüber Michael Naumann (SPD), dem Staatsminister für Kultur. So verschieben sich die Fronten. Denn Naumann hatte Thoben für ihren schnellen Rücktritt Respekt gezollt und im selben Atem den "kulturpolitischen Sumpf" gescholten, der in Berlin immer deutlicher zu Tage trete.

Vielleicht hat Christa Thoben zu früh das Handtuch geworfen. Aber ihr Rücktritt ist mehr als ein lokalpolitischer Betriebsunfall. Er bedeutet eine Zäsur: das Ende der Berliner Selbstgerechtigkeit, der notwendige Anfang aber auch eines neuen Verhältnisses zwischen Hauptstadt und Bundesregierung.

Berlin hat eine Doppelfunktion, als Stadtstaat und Kapitale. Zugleich hat die Stadt mindestens zwei Gesichter. Sie lockt mit ihrem Reichtum an Museen, Opern, Theatern, Akademien, Universitäten und Forschungsinstituten. Das ist ihr stärkstes Pfund, die Attraktion vor allem für jüngere, zukunftsorientierte Menschen aus vielen Ländern und für Millionen Touristen. Kultur und Wissenschaften sind so auch ein enormer Wirtschaftsfaktor der Kommunikations- und Dienstleistungsgesellschaft; hinzu kommt mit dem Regierungsumzug die wachsende Beutung der Medien-Stadt - man spürt den Aufbruch, den Aufwind fast überall am Ort. Und doch ist Berlins zweites Gesicht die öffentliche Armut. Am Erbe der vierzigjährigen Teilung trägt die Ost-West-Stadt wie kein anderer deutscher Ort. So hat sich Berlin nach der Wiedervereinigung auch gleichsam verdoppelt in den Strukturen aufgeblähter, kostspieliger öffentlicher Verwaltung. Das betrifft nicht nur die überschuldeten Kulturinstitutionen, deren Leitern es noch immer verwehrt ist, im Rahmen des öffentlichen Dienstes nennenswert Stellen zu kürzen. Berlins große Koalition schreckt vor "betriebsbedingten Kündigungen" grundsätzlich zurück, weil das tatsächlich den Umbau der wirtschaftsschwachen Sozialstadt bedeuten würde: mit finanziell und gesellschaftspolitisch schwer absehbaren Folgen. Insofern betrifft das Thema "Strukturänderungen im Kulturbereich" erst die Spitze des Eisbergs.

Trotzdem kann es nicht weitergehen wie bisher. Theatern und Opernhäusern, deren Fixkosten viermal so hoch sind wie ihre künstlerischen Produktionsmittel, droht ohne Entschuldung der Bankrott. An der Freien Universität baut Norman Foster, der Architekt der Reichtagskuppel, für 30 Millionen Mark eine (dringend benötigte) neue Bibliothek - aber der Hochschule fehlt der Etat, noch hinreichend Bücher und Zeitschriften zu kaufen. Solche Beispiele gibt es in Fülle.

Berlins Politiker spüren die Zäsur. Die Kulturpolitik eines neuen Senators müsste da zum Prüfstein werden. Für eine ungeschminkte Berlin-Bilanz. Und für ein Konzept der Kultur-Hauptstadt. Wer klare Zahlen zeigt und inhaltlich Zeichen setzt, kann dann zur Bundesregierung gehen: um einen neuen Kulturhauptstadt-Vertrag zu verhandeln. Dabei werden Schröder, Eichel und Naumann mit verstärktem politischen und finanziellen Engagement die Probleme Berlins auch als nationale Erbschaft begreifen müssen.

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