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Schriftzug "Car is over" auf Straßenasphalt.

© Jörn Hasselmann

"Tag des guten Lebens": Autofrei – für einen Tag

Flanieren, dinieren, feiern – auf der Straße, ohne dass die Autos stören? Das klingt nach einem Traum, wird aber vielleicht in drei Berliner Kiezen Realität.

Stellen Sie sich Folgendes vor: Die Straßen sind gesäumt mit Sofas, Kinder spielen auf dem Asphalt, daneben steht ein Grill. Schlemmend sitzen die Menschen auf dem Bordstein, während ein paar Meter weiter Nachbarn ausgelassen tanzen – mitten auf der Straße. So könnte es aussehen: ohne Autos, ohne zugeparkte Wege, eine Stadt für die Menschen. Was nach Utopie klingt, soll 2020 in drei Berliner Kiezen in Mitte, Lichtenberg und Neukölln mit dem „Tag des guten Lebens“ Wirklichkeit werden.

Das Konzept für den Tag stammt von dem Sozialwissenschaftler Davide Brocchi. Die Regeln sind simpel: Die Autos müssen weg. Es darf nichts verkauft oder gekauft werden, lediglich teilen und schenken ist erlaubt. Die Anwohner gestalten ihren Kiez an dem Tag selbst, müssen sich jedoch miteinander absprechen. Die gewonnenen Rechte gehen also auch mit Pflichten einher. „Die Bürger sollen nicht nur Politik konsumieren, sondern vom Objekt der Politik zum Subjekt werden“, erklärt Brocchi.

In Köln, wo er das Konzept entwickelt hat, findet der Tag bereits seit 2013 an einem Sonntag im Jahr jeweils in einem Quartier statt. An der Premiere in Berlin wird im Moment noch gearbeitet. Da der Tag von den Anwohnern getragen werden soll, ist eine enge Zusammenarbeit und Vernetzung in den Kiezen notwendig. Dass Berlin, anders als Köln, wo nur ein Quartier den Tag begeht, gleich mit drei Kiezen anfängt, liegt an dem Größenunterschied der beiden Städte.

Autos weg, kein Verkauf, nur schenken ist erlaubt

„Berlin und seine Kieze funktionieren anders als Köln. Man muss in Berlin mit mehreren Kiezen arbeiten, um die gesamte Stadt zu erreichen“, sagt Brocchi. Wichtig war ihm, dass es in den Gebieten eine gewisse soziale Heterogenität gibt, außerdem sollte mindestens ein Kiez im Ostteil der Stadt liegen. Durch Gespräche mit Politikern und Vertretern verschiedener Organisationen fiel die Wahl schließlich auf den Körnerkiez in Neukölln, den Brüsseler Kiez in Mitte und die Viktoriastadt in Lichtenberg. Seit dem vergangenen Herbst finden hier Gespräche mit den Anwohnern statt.

Autofreie Stadt – die Idee ist zwar nicht neu, aber in dem Umfang, in dem Brocchi es vorhat, äußerst bemerkenswert. Im vergangenen Dezember hatte das Bündnis Stadt für Menschen einen Teil der Friedrichstraße für zwei Stunden vom Autoverkehr befreit und zur „Flaniermitte“ umgestaltet. Vom Tag des guten Lebens ist man bei Stadt für Menschen begeistert. „Wir finden das Konzept toll“, sagt Bündnis-Sprecher Matthias Dittmer. Auch wenn es komplexer sei als die „Flaniermitte“, sieht Dittmer gute Chancen für eine Umsetzung.

Auch der Fußgängerverein Fuss begrüßt die Idee. Er gehört zu den über 42 Organisationen in Berlin, die den Tag unterstützen. Dort ist man sich aber aus eigener Erfahrung auch des Konfliktpotenzials einer solchen Aktion bewusst. Autofahrer könnten blockierte Straßen und wegfallende Parkplätze auf die Barrikaden treiben. Um dem zuvorzukommen, ist es Brocchi wichtig, alle Anwohner der Kieze mit ins Boot zu holen und Angebote zu schaffen.

Für die Autos im Kiez sollen Ersatzparkplätze in Einkaufszentren, Supermärkten und Schulen organisiert werden, die an Sonntagen sowieso ungenutzt bleiben. Autobesitzer sollen vier Wochen im Voraus informiert werden, wo sie ihr Auto unterbringen können. Für Personen, die dringend ein Fahrzeug benötigen, soll ein Dienst von freiwilligen Helfern aus der Nachbarschaft organisiert werden. Die Absperrungen der Straßen sollen in Absprache und mit Unterstützung der zuständigen Bezirksämter erfolgen.

Aus Lichtenberg und Neukölln gibt es bereits positive Signale

Bisher sind die Bezirksämter zwar informiert, aber noch nicht in die Planung involviert. Ähnlich ist es auf der Landesebene. Sollte es zur Sperrung der Kieze für den Verkehr kommen, muss diese mit der Senatsverwaltung für Verkehr und Umwelt abgesprochen werden.

„Es müsste dann geprüft werden, wohin der fließende Verkehr umgeleitet wird und ob das problemlos möglich ist“, so Senatsverwaltungssprecher Derk Ehlert. Was mit dem ruhenden Verkehr passiert, sei hingegen ausschließlich Sache der Bezirke. In Lichtenberg und Neukölln gibt es bereits positive Signale von der Bezirksebene.

In Mitte gibt sich das Bezirksamt hingegen zurückhaltend. Solange die Federführung des Projektes nicht geklärt sei – also es eine zentrale Ansprechperson oder Institution gibt – könne man sich nicht weiter äußern, heißt es. In einem sind sich jedoch alle einig: Die Anwohner der Kieze müssen den Tag wollen, sonst geht gar nichts.

Damit sind sie auf einer Linie mit Brocchi. Seit den ersten Bürgerveranstaltungen im vergangenen Jahr wachse das Interesse immer mehr, sagt er. In den kommenden Monaten sollen gezielt Treffen in verschiedenen Einrichtungen wie Moscheen und Schulen stattfinden, um möglichst viele Anwohnergruppen zu erreichen.

Um die Organisation zu erleichtern und dem Tag eine Stimme zu geben, wird am 27. Februar im Haus der Demokratie ein Bündnis aus Vertretern der Kieze und der Unterstützerorganisationen gegründet, dass die Schirmherrschaft für den Tag übernimmt. Mit dem Bündnis im Rücken soll dann die Planung des Tags weiter voranschreiten. Schließlich soll der Tag – sollte er stattfinden – in den kommenden Jahren von den Bürgern selbst fortgeführt werden und zwar jedes Jahr in anderen Kiezen.

Auch in anderen Bezirken gibt es Interesse am Tag des guten Lebens. Die Stadträte aus Friedrichshain-Kreuzberg, Charlottenburg-Wilmersdorf und Pankow begrüßen die Initiative, die sich für ein Reduktion des Pkw-Verkehrs in Wohngebieten einsetzen, ausdrücklich und finden das Konzept interessant. In Pankow gibt es derzeit bereits Pläne, am 16. Juni die Schönhauser Allee für den Autoverkehr zu sperren.

Florian Schmidt, Bezirksstadtrat in Friedrichshain-Kreuzberg, würde sogar gern noch einen Schritt weiter gehen: „Der motorisierte Individualverkehr sollte grundsätzlich aus Wohngebieten verbannt werden.“ Das mag der Tag vielleicht nicht erreichen, aber er eine Idee davon geben, wie sich ein solches Leben anfühlen könnte.

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