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Berliner Mauer: Der geharkte Todesstreifen

Ein 155 Kilometer langer Ring um West-Berlin, davon 43 Kilometer mitten durchs Stadtgebiet, ein 70 Meter breites Hindernis mit Zäunen, Wachtürmen, Hundelaufanlagen und Betonsegmenten, Arbeitsplatz für eine 12.000 Mann starke Truppe von Grenzsoldaten – vor 20 Jahren Alltag in der geteilten Stadt.

Vor einigen Wochen tauchte auf dem Mittelstreifen der Potsdamer Straße, zwischen Sony-Center und Debis-Areal, kurzfristig eine neue Mauer auf. Ein Segment nur, das bekannte Modell mit Standfuß und gerundeter Krone, doch niedriger, klobiger als das Original, dazu eindeutig auf altem West-Berliner Terrain. Ein Werbemittel für die Konzertreihe der Philharmoniker und des Konzerthausorchesters zum Mauerfall-Jubiläum, jeder hätte das erkennen müssen, sollte man meinen. Touristen griffen dennoch zur Kamera.

Ein krasses Beispiel für schwindendes Mauerwissen. Auf ähnliche Lücken stieße man wohl, befragte man die knipsenden Scharen an der East Side Gallery: „Hinterlandmauer? Gab’s vorne noch eine?“ Berlin macht es neuen Bewohnern wie Gästen aber nicht gerade leicht, sich den Jahrzehnte währenden Riss durch die Stadt vorzustellen. Der Todesstreifen ist zugebaut oder zugewuchert, und selbst die wenigen Reste lassen das Ausmaß der Abriegelung West-Berlins, die beklemmende Atmosphäre nahe der Mauer kaum mehr erahnen.

Ohnehin gab es nie die Mauer an sich. Sie war kein homogenes Bauwerk, sondern ein in die Tiefe gestaffeltes, die westliche Stadthälfte auf 155 Kilometern umgebendes Grenzsystem, das sich den Eingeschlossenen nur überwiegend, aber nicht überall als Mauer im eigentlichen Sinne präsentierte. Je nach Gelände gab es besonders an der Grenze zum heutigen Brandenburg auch engmaschige Metallzäune, dort überwog zudem der ältere, aus Betonplatten zwischen Eisenpfeilern zusammengefügte Mauertyp, während auf den 43 Kilometern zwischen West- und Ost-Berlin der seit Mitte der Siebziger verbaute Typ der „Grenzmauer 75“ überwog: An sich ein für die Landwirtschaft entwickeltes Segment, in der Regel 3,60 Meter hoch, oben um eine Röhre als Krone ergänzt, um das Übersteigen zu erschweren. Der asymmetrische Fuß ragte weit auf die Ostseite hinüber, beim Umkippen des Segments wäre er als weitere Sperre hochgeklappt. So konnte man die früher üblichen Gräben und Sperrkreuze gegen Grenzdurchbrüche mit Fahrzeugen allmählich abbauen.

Dass ein Flüchtling so weit kommen würde, war ohnehin unwahrscheinlich. Je nach örtlicher Situation maß der zu überwindende Grenzstreifen zwischen einer halben Straßenbreite und 70 Metern, bisweilen auch mehr. Dieses Hindernis begann auf der Ostseite mit der etwa drei Meter hohen Hinterlandmauer, der ein Signalzaun mit diversen Alarmvorrichtungen folgte. Die nächste Sperre waren Laufanlagen für angeleinte Wachhunde, ausgenommen in dichtbesiedelten Gebieten, mit über 1150 Tieren. Beim sonntäglichen Spaziergang über die Wiesen vor Lübars etwa hörten West-Berliner ihr aggressives Bellen schon aus der Ferne. Ein asphaltierter Kolonnenweg für Patrouillenfahrzeuge, eine geharkte Sandfläche, auf der Fußspuren leicht zu verfolgen waren, eine Batterie von Laternen an hohen Masten, dazu 302 Wachtürme mit Scheinwerfern und 20 Bunker komplettierten das Sicherungssystem rund um die Inselstadt. Minen und Selbstschussanlagen, wie sie an der innerdeutschen Grenze zeitweise eingesetzt wurden, gab es nicht.

Ein fast undurchdringbarer Todesstreifen, dennoch haben Flüchtlinge es immer wieder versucht hinüberzugelangen und mussten dies oft genug mit dem Leben bezahlen. Nach offiziellen Angaben verloren an der Grenze zu West-Berlin 136 Menschen ihr Leben, nach der Zählung des Mauermuseums am Checkpoint Charlie waren es sogar 245.

Die Bewachung der Mauer war Aufgabe des Grenzkommandos Mitte, dem Ministerium für Nationale Verteidigung unterstellt, mit Stabssitz in Karlshorst. Zuletzt waren das 12 000 Mann, verteilt auf acht Grenzregimenter und weitere Einheiten. Täglich waren rund 2300 Mann direkt an der Grenze im Einsatz.

Mit dem „vorderen Sperrelement“, wie es bei den Grenztruppen hieß und das vor allem das Bild der Mauer prägte, war die DDR aber keineswegs zu Ende. Zwischen Mauer und Freiheit lag das „Unterbaugebiet“, oft nur wenige Meter schmal, teilweise auch breiter. Daher mussten Graffitimaler immer wieder mit unerwartet aus einer Tür in der Mauer tretenden Grenzern rechnen. Ein Sonderfall war das Lenné-Dreieck nördlich des Potsdamer Platzes, eine lange Zeit nur abgezäuntes Gelände westlich der Mauer, erst verwildert und dann 1988, kurz bevor das Areal per Gebietsaustauch an West-Berlin überging, von dortigen Umweltschützern, Alternativen, Punks, Spontis besetzt. Die West-Polizei konnte dagegen erst vorgehen, als der Austausch wirklich vollzogen war, die Besetzer aber flüchteten über die Mauer nach Osten.

So unüberwindbar die Mauer zuletzt auch nahezu war – perfekt war sie aus Sicht der Ost-Berliner Führung nicht. Zum einen gab es eben doch Fluchtversuche, sogar erfolgreiche, und es war doch ein martialisches, nicht gerade imageförderndes Bauwerk. In der Endphase der DDR gab es daher Überlegungen zur Umrüstung der Grenzanlagen. Ziel sollte es sein, „vorrangig solche physikalischen Wirkprinzipien und technischen Mittel zur Anwendung zu bringen, die bei hoher Sicherheit die Ansatzpunkte zur Hetze gegen die DDR für Gegner verringern“, wie es in einem Vorschlag der für den Bereich „Technik und Bewaffnung“ zuständigen Abteilung der Grenztruppen hieß. Elektronische Überwachungstechniken sollten die rabiaten Methoden ablösen, was angesichts der desolaten Wirtschaft auch ein finanzielles Problem gewesen wäre.

Mit dem 9. November 1989 stellte es sich nicht mehr.

 Andreas Conrad

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