zum Hauptinhalt

Berliner Trümmerfrauen: Kein Herz aus Stein

60 000 Trümmerfrauen befreiten die Stadt nach 1945 von Schutt und Asche. Heute sind sie zwischen 84 und 95 Jahre alt und auf Hilfe angewiesen. Eine Berlinerin kümmert sich um sie.

„Dann musst du eben abnehmen“, sagt Renata Adly zu einer ihrer „Ladies“, und sie darf das: Die Jacke ist einfach zu eng. Ihre „Ladies“ – so nennt Adly sieben Frauen, die sich jeden Dienstag in der Grunewalder Seniorenwohnanlage an der Herthastraße treffen. Sie sind alle zwischen 84 und 95 Jahre alt und haben einen Schwerbehinderungsgrad von mehr als 80 Prozent. Adly, selbst 77, therapiert diese Frauen mit alternativen Heilmethoden. Viele von ihnen sind ehemalige Trümmerfrauen, die Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg von Schutt und Asche befreiten – um die sich aber heute so recht kein Hilfsverein kümmert.

Renata Adly bietet für die Frauen gratis Körperübungen an, sie organisiert Kuchen als Spenden und gelegentlich neue Kleidung von Privatpersonen oder Boutiquen. „Die Frauen haben Sprach- und Gedächtnisstörungen und Probleme mit ihrem Bewegungsapparat“, sagt Adly. Sie macht mit den Frauen auch Sprachtraining und massiert sie. Manchmal wird es auch laut. „Wir schreien, damit die Stimme trainiert wird. Mit den Damen spricht doch sonst kaum noch einer“, sagt Adly. Sie hat eine Ausbildung an der Charité absolviert, um diese alternativen Methoden anwenden zu können.

Die 77-Jährige arbeitet noch selbstständig als Buchhalterin, ist in der örtlichen Kirchengemeinde aktiv – und sie engagiert sich für die Trümmerfrauen, um ihnen jetzt, im hohen Alter, etwas von dem zurückzugeben, was sie damals für andere in der Stadt geleistet haben.

Lydia Müller ist eine von ihnen. Sie hat als 20-jährige Frau den Bahnhof in Grunewald freiwillig enttrümmert. „Die Arbeiten waren sehr gefährlich. Metallteile konnten einen erschlagen“, erinnert sie sich. Geld hat sie dafür nicht bekommen. „Wir haben für einen Teller Suppe am Tag gearbeitet“, sagt Müller. „Es war eine schwere Zeit. Alles war zerstört, es gab kein Essen.“ Auch die 95-jährige Hildegard Görlitz gehört zu den Aufbauhelferinnen nach 1945. „Es ging ums nackte Überleben“, sagt sie. „Ich habe mich im Absatz des Hauses mit meinem Baby vor den Russen versteckt. Ein Schrei, und sie hätten mich entdeckt“, erzählt sie.

Erinnerungen wie diese sind während der Therapie vergessen. Adly macht den Frauen alle Übungen vor. Sie massiert Arme und Beine, dehnt Finger, glättet die „Derrickfalten“, so nennt sie Hautprobleme scherzhaft. „Das ist Training für die Bauchmuskeln, Lachen hält gesund“, freut sich eine der Teilnehmerinnen.

Bis zu 60 000 Trümmerfrauen arbeiteten nach dem Krieg in Berlin. Sie räumten Schutt und Asche aus der Stadt, in der bis zu 30 Prozent der Gebäude zerstört waren. Hier lagen nach Kriegsende 75 Millionen Kubikmeter Schutt, diese Menge hätte einen 30 Meter breiten und fünf Meter hohen Damm von Berlin nach Köln ergeben. Die Frauen rissen Ruinen ein, trugen Steine mit bloßen Händen weg, säuberten Ziegelsteine, damit sie wiederverwendet werden konnten.

Im Sommer 1945 hatte der Alliierte Kontrollrat die Arbeitspflicht für Männer von 14 bis 65 Jahren und für Frauen zwischen 15 und 50 Jahren eingeführt, es gab aber auch freiwillige Helfer. Das Verhältnis zwischen Frauen und Männern betrug in Berlin 63 zu 37 Prozent. Der Stundenlohn lag umgerechnet bei rund 70 Cent. Dieser auch für die damalige Zeit geringe Verdienst und gebrochene Erwerbsbiographien bescheren vielen Trümmerfrauen heute sehr geringe Renten. Renata Adly weiß das, und sie bringt jeden Dienstag zur Therapie auch Brötchen und Kuchen mit, die sie von einer Charlottenburger Bäckerei gespendet bekommt. „Viele leben doch sonst nur von Toastbrot für 45 Cent die Woche. Da muss ich helfen. Man tut, was man kann.“

Mit bloßen Händen. Nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten Trümmerfrauen überall in Berlin, wie hier 1945 an der Berliner Straße, eine Kette für die Aufräumarbeiten. Foto: dpa
Mit bloßen Händen. Nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten Trümmerfrauen überall in Berlin, wie hier 1945 an der Berliner Straße, eine Kette für die Aufräumarbeiten. Foto: dpa

© picture-alliance/ dpa/dpaweb

Adly lebt selbst in der Wohnanlage, und als eine Frau aus der Kirchengemeinde vor sieben Jahren die Aktivitäten nicht mehr anbieten konnte, übernahm sie die Aufgabe. Renata Adly war in den sechziger Jahren aus dem Ruhrgebiet gekommen, „die haben doch Leute gesucht in Berlin“. Sie arbeitete lange selbstständig in der Reisebranche und lebte mehrere Jahre im arabischen Ausland.

In der Herthastraße wohnt sie seit 15 Jahren, und sie kritisiert, dass einiges sich in den vergangenen Jahren dort verschlechtert habe, weil alle sparen müssten. Vor einigen Jahren habe es noch eine Altenpflegerin gegeben, die Gemeinschaftsräume „könnten mal eine Überholung gebrauchen“, und die Bäder seien überwiegend nicht barrierefrei. „Aber die Frauen hier haben Deutschland aufgebaut, sie müssen doch heute auch anständig leben“, findet sie. Der nächste Laden ist nur mit dem Bus zu erreichen. Auch dafür ist Renata Adlys Therapie gut. „Wir brauchen Muskeln fürs Busfahren. Damit wir uns beim Bremsen und Anfahren nicht hinlegen“, sagt sie. Da muss die Runde lachen.

Hildegard Görlitz wird wieder ernster. „Es ist erstaunlich, was man alles ertragen kann. Fangt bloß keinen Krieg an.“

Sebastian Sahm

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false