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Am Ort des Geschehens. Elisabeth und Horst Schmidt mit ihrem Enkel Anton Rustemeier am Kurfürstendamm. Nach dem Mauerfall hatten beide hier Gratis-Kaffee an Ost-Berliner verteilt.

© Thilo Rückeis

Wende-Geschichte vom Kurfürstendamm: Gratis-Kaffee für Ost-Berliner nach dem Mauerfall

Am Tag nach dem Mauerfall 1989 schenkte das Ehepaar Schmidt am Ku'damm Kaffee aus – und verteilte Windeln. Sie halfen DDR-Familien, die im Westen der Stadt mit Kindern unterwegs waren, und brachten es bis ins Radio.

Der Beitrag stammt aus unserer Serie Wende-Geschichten mit Aufsätzen von Berliner Schülern. Wir lassen Kinder berichten, was ihre Familien am 9. November 1989 erlebt haben. Dieser Artikel beruht auf einem Aufsatz von Anton Rustemeier.

Am 9. November 1989 lief im westdeutschen Fernsehen Fußball. Für die sonst sehr aktive Elisabeth Schmidt war das ein Grund, ausnahmsweise mal früh schlafen zu gehen. „Ich, die sonst immer bis Mitternacht oder halb eins in der Früh wach ist“, sagt die heute 77-Jährige – auch 25 Jahre nach dem Fall der Mauer ist sie enttäuscht, diese Nacht verpasst zu haben.

Die Nachricht von der Öffnung der Grenze bekam sie am nächsten Morgen von ihrem Ehemann Horst. „Stell dir vor, die Mauer ist gefallen“, habe er ganz aufgeregt gesagt.

„Hier steppt der Bär“

Dann ging alles ganz schnell: Die ältere Tochter rief an. Sie arbeitete zu diesem Zeitpunkt an einer Konzert- und Theaterkasse am Kurfürstendamm. „Hier steppt der Bär“, sagte sie ihren Eltern.

„Alles war verstopft. Alle freuten sich“, schreibt ihr Enkelsohn, der zwölfjährige Anton Rustemeier, in seinem Beitrag für den Aufsatzwettbewerb. Er hat seine damals 23-jährige Mutter, seine heute 101-jährige Urgroßmutter und eben die Großeltern zu ihren Erlebnissen befragt. Die Großeltern hatten ja schon öfters gute Geschichten zu erzählen, dachte sich Anton. Wie sie den Mauerfall erlebt hatten, wusste er aber noch nicht. Wie es mit den Großeltern auf dem Kurfürstendamm weiterging? „Ich bin ganz aufrecht gesessen und habe zugehört“, sagt er.

Reihenweise Versorgungsstände und jede Menge Trabis

Die Schmidts bauten einen Stand auf und verteilten Kaffee an die Passanten. Am Ku’damm stand schließlich fast ein Stand neben dem anderen. Die Menschen drängelten sich auf den Bürgersteigen und zwischen den Trabis auf der Straße. Kein Auto kam mehr voran.

Immer wieder lief das Ehepaar Schmidt hoch in das Büro einer Immobilienfirma, um neuen Kaffee zu kochen und in große Kannen abzufüllen. Für die ersten Kannen hatten die Schmidts noch alles eingepackt, was an Vorräten zu Hause war. Danach spendeten Büros und Unternehmen ihnen den Kaffee und den Zucker.

11. November 1989: Zehntausende strömten nach der Grenzöffnung aus Ost-Berlin in den Westen der Stadt. Eine der Folgen: ein völlig überfüllter Ku’damm.

© Imago

Unternehmen machten mit

Auch viele große Unternehmen wie Kaiser’s und Karstadt verteilten Tüten mit Orangen und Bananen, auch Apfelschorle, Milch und Wasser. Die Ost-Berliner konnten ja mit der Ost-Mark in den Läden am Kurfürstendamm nicht bezahlen. In West-Berliner Banken konnten sie sich 100 DM „Begrüßungsgeld“ abholen, aber die Schlangen waren lang. Die West-Berlinerin Elisabeth Rustemeier trägt noch heute eine DDR-Mark in ihrem Portemonnaie. In Supermärkten entsperrt sie damit den Einkaufswagen.

Wie sich die Menschen in die Arme fielen, erinnert sich Horst Schmidt. Der damals 55-Jährige war in West-Berlin Direktor für den Lebensmittelgroßhändler Metro und beruflich öfter in Ost-Berlin unterwegs. Noch heute kommen ihm die Tränen, wenn er an den Tag auf dem Kurfürstendamm zurückdenkt. „Das vergisst man sein ganzes Leben nicht mehr“, sagt der heute 80-Jährige.

Spontane Einladung zur Übernachtung

Auch Windeln verteilte das Ehepaar Schmidt für Familien mit Kindern damals. Wegen der Menschenmengen wussten viele nicht, wann sie wieder nach Hause kommen würden. Die Schmidts lernten gegen Abend zwei Frauen aus der Gegend um Hoyerswerda kennen, die mit Kind im Kinderwagen unterwegs waren. Die Schmidts luden die beiden Frauen für die Nacht in ihr Haus in Dahlem ein.

Am Morgen des 11. November besuchten Horst Schmidt und die beiden Frauen gemeinsam den Sender des West-Berliner Privatradios „100,6“, das sowohl die Frauen als auch das Ehepaar damals hörten. Horst Schmidt hatte vom Mauerfall über diesen Sender erfahren. Spontan wurden die zwei ostdeutschen Frauen im Studio interviewt, sie schickten Grüße an ihre Familien, sagten, dass es ihnen gut gehe und dass sie bald wieder zu Hause sein würden. Horst Schmidt führte sie zum Grenzübergang in Wedding.

Eine euphorische Silvesternacht

Ein Jahr später sahen sie sich noch einmal wieder. Eine euphorische Nacht erlebten Elisabeth Schmidt und ihr Mann zur Jahreswende 1989/1990 am Brandenburger Tor. Das Ehepaar hatte bei Freunden aus dem alten Bundesgebiet Geld gesammelt, das sie zusammen mit kleinen Sektflaschen verteilten. Die Kontaktdaten der Spenden waren auf der Unterseite von Marzipanschweinen notiert. Die Schmidts wurden umgekehrt auf selbst gekelterten Obstwein aus ostdeutschen Gärten eingeladen.

Die Ernüchterung folgt

Ein Jahr später trafen sich einige der Freunde und der Empfänger der Flaschen mit den Schmidts, um sich zu erzählen, was in dem Jahr für sie passiert war. Auch das wurde noch eine lange, spannende Nacht – wenngleich nüchterner.

Ein Polizist hatte seine Arbeit verloren. Die Euphorie des Mauerfalls war zu diesem Zeitpunkt schon verflogen.

- Der Artikel erscheint auf dem Ku'damm-Blog, dem Online-Magazin für die westliche Innenstadt.

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