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Zum Aufwärmen ein paar Übungen mit den Händen

© Anett Kirchner

Inklusives Projekt: Rollstuhl-Karate in Zehlendorf: Die höfliche Sportart

Wie Karate nur ohne Beine - das ist Rollstuhlkarate. In Steglitz-Zehlendorf gibt es berlinweit den einzigen Verein, der diesen Sport anbietet. Eine Reportage über eine Sportart, die manchmal an eine Eistanzkür erinnert, und bei der man den Atem hören soll.

Schüler und Meister sitzen sich gegenüber. Im Rollstuhl. Sie schließen ihre Augen, beugen die Köpfe sanft nach vorn. Etwa eine Minute lang ist es ganz still - in der Sporthalle der Biesalski-Schule am Hüttenweg. Die Hektik des Tages hinter sich lassen, den Kopf frei machen, zur Ruhe kommen, dann eine Verbeugung als Zeichen des gegenseitigen Respekts. „Karate ist eine höfliche Sportart“, erklärt Michael Thiemer, Trainer und Karatemeister. Hierbei gehe es um Fairness und Rücksicht. Das soll sich später auch im Alltag widerspiegeln. Karate? Im Rollstuhl? Dass das funktionieren kann, bestätigt der „1. Zehlendorfer Karate Verein“ seit etwa zwölf Jahren. Jeweils freitags treffen sich hier karatebegeisterte Rollis, wie sie sich selbst nennen, zum Training.

Zu der Gruppe gehören normalerweise sieben Teilnehmer. Doch manchmal fühlt sich jemand gesundheitlich nicht wohl oder der Transport zur Sporthalle lässt sich nicht einrichten. So sind an diesem schwülwarmen Sommertag nur Lydia und Andrea anwesend. Die beiden Frauen leiden an Multipler Sklerose und sind in ihrer Motorik vor allem in den Beinen eingeschränkt. Das auf den Rollstuhl speziell abgestimmte Karatetraining hilft ihnen, in gewisser Weise beweglich zu bleiben. Es hält besonders die Arme, Hände, den Nacken und die Wirbelsäule fit. Hier wird im Grunde das übliche Karate praktiziert - nur ohne Beine. Jeder ist willkommen, egal welche Beeinträchtigung er hat.

Hier wird eine Kata trainiert, eine Übungsform mit etwa 25 einstudierten Bewegungen
Hier wird eine Kata trainiert, eine Übungsform mit etwa 25 einstudierten Bewegungen

© Anett Kirchner

„Ich hätte mich das von allein nie getraut“, erzählt Lydia. Eine Bekannte aus ihrer Selbsthilfegruppe habe ihr davon erzählt und sie dazu ermutigt. Im Nachhinein ist Lydia ihr sehr dankbar. Denn durch das Karate-Training bewege sie ihre Arme und ihren Körper anders als im Alltag. Dabei werde beispielsweise auch die Wirbelsäule angeregt. Ihr ganzer Körper sei seitdem beweglicher geworden.   

„Atmen nicht vergessen“, ermahnt Michael Thiemer seine Schülerinnen und ruft: „Ich höre euch nicht!“ Darauf geben die Frauen einen lauten Kampfschrei von sich und machen eine bestimmte Handbewegung. Sie trainieren gerade eine „Kata“. So wird eine Übungsform mit etwa 25 einstudierten Bewegungen genannt; ähnlich einer Kür im Eiskunstlaufen, erklärt der Trainer. Doch anstelle eines Schrittes nach links, drehen sie den Rollstuhl schräg nach links und umgekehrt. Das erfordert hohe Konzentration, denn bevor sie mit den Armen zu einer vorgegebenen Bewegung ausholen, müssen sie immer erst den Rollstuhl in Position bringen. All das folgt nicht etwa einem Zufallsprinzip, nein, vielmehr hat der japanische Karatemeister Tadashi Ishikawa speziell für Rollstuhlfahrer dieses eigene Regelwerk entwickelt.

In Berlin ist der Zehlendorfer Verein der einzige, der das anbietet. Deutschlandweit kennt Thiemer nur drei Vereine, bei denen man dieses Karate lernen kann. „Anfangs wurde ich nicht ernst genommen“, erinnert er sich, schüttelt dabei den Kopf, als ob er das bis heute nicht verstehen könne. Für den ersten Vorsitzenden des Karate-Vereins scheint das Rollstuhl-Karate eine besondere Herzensangelegenheit zu sein. Er habe sich bei vielen Verbänden und Organisationen, die mit Menschen mit Beeinträchtigung arbeiten, vorgestellt. Die meisten reagierten mit: „Das funktioniert doch nicht.“

Mit großem Engagement und aufrichtiger Empathie geht der Trainer Michael Thiemer auf seine Schützlinge ein
Mit großem Engagement und aufrichtiger Empathie geht der Trainer Michael Thiemer auf seine Schützlinge ein

© Anett Kirchner

Seit er 17 ist, praktiziert der inzwischen 62-Jährige das Shotokan-Karate. Er hat den schwarzen Gürtel und den dritten von insgesamt zehn Dan. Das entspricht einer Art Meistergrad. Als junger Mann sei er um ein Haar selbst im Rollstuhl gelandet. Durch eine Lebensmittelvergiftung habe er eine schwere, chronische Polyarthritis mit entzündeten Gelenken bekommen. Er konnte nicht mehr greifen, nicht gehen, nichts. „Die Ärzte hatten mich bereits aufgegeben“, erzählt er. „Doch ich bin eine Kämpfernatur.“ Etwa ein Jahr später war Michael Thiemer wieder gesund. Eine Erfahrung, die ihn prägte. Seither habe er einen „Mega-Respekt vor Rollstuhlfahrern und möchte gern etwas zurückgeben“.

Deshalb blieb er hartnäckig, wollte unbedingt eine Rolli-Gruppe aufbauen, veröffentlichte Artikel in Zeitungen und auf der Vereins-Homepage. Denn er ist überzeugt, dass Karate allen Menschen gut tut. Es sei kein reiner Kampfsport. Vielmehr gehe es hier darum, Körper und Geist in Einklang zu bringen.

Eine der ersten, die sich meldete, war Andrea. „Ich bin offen für alles, fand das spannend und wollte es probieren“, habe sie gedacht. Mit Erfolg. Jeweils nach dem Training sei sie glücklich und entspannt. Karate schütte bei ihr offenbar jede Menge Glückshormone aus. Zudem sitze sie seitdem im wörtlichen und übertragenen Sinne aufrechter im Rollstuhl, fühle sich sicherer und selbstbewusster. Michael Thiemer sage immer zu ihnen, sie sollen sich nicht hängen lassen, nicht aufgeben oder so oft daran denken, dass sie eigentlich krank seien. „Damit hat er recht“, findet Andrea.

Andrea (links) schaffte 2013 den ersten Platz bei der Deutschen Karate-Meisterschaft für Menschen mit Behinderung; in der Klasse Damen sitzend
Andrea (links) schaffte 2013 den ersten Platz bei der Deutschen Karate-Meisterschaft für Menschen mit Behinderung; in der Klasse Damen sitzend

© Anett Kirchner

Und noch etwas. 2013 schaffte sie den ersten Platz bei der Deutschen Karate-Meisterschaft für Menschen mit Behinderung; in der Klasse Damen sitzend. „Einen solchen Meistertitel haben die Läufer in unserem Verein bisher nicht erreicht“, sagt sie mit einem breiten Lächeln, zeigt stolz ihre Medaille und relativiert schnell noch ihre Aussage ein wenig. Das Karate der Läufer, also normales Karate sei nicht mit dem der Rollis zu vergleichen. „Wir trainieren normalerweise immer nur Katas, also die einstudierten Bewegungsabläufe, machen sehr selten Partnerübungen“, erklärt sie.

Hier im Verein trainieren Rollis und Läufer zur selben Zeit, zwar nicht miteinander, aber in einer Halle. Das ist bewusst so gewählt und gehört sozusagen zur Philosophie, erklärt der Trainer. Denn er will seine Schützlinge voll integrieren. Mit dem Ziel, dass die Rollis später einmal gemeinsam mit den Läufern trainieren können. Im Übrigen bezahlen die Rollstuhlfahrer keinen Mitgliedsbeitrag in dem Verein.

Damit sich der Meister auch gut in seine Schüler hinein versetzen kann, sitzt er beim Training selbst im Rollstuhl. „Dafür musste ich Karate noch einmal komplett neu lernen“, sagt er. Andrea und Lydia schwärmen indessen von ihrem Meister. Obwohl man es ihm nicht ansehe, denn Michael Thiemer ist groß und kräftig gewachsen, sei er ein sensibler und verständnisvoller Mensch. Mit großem Engagement und aufrichtiger Empathie gehe er auf die Rollis ein. Obwohl er ein erstklassischer Karatemeister sei und es im Grunde nicht nötig habe, mit ihnen zu trainieren, gebe er keinem das Gefühl, ihm nicht ebenbürtig zu sein. „Jetzt hört auf“, sagt er verlegen. „Sonst wächst mir noch ein Heiligenschein.“

Rollstuhlfahrer, die Interesse an dem Karatetraining haben, können freitags um 18.30 Uhr in die Sporthalle der Biesalski-Schule kommen (Rollstühle sind vorhanden) oder sie melden sich per E-Mail unter zkv.tiger@t-online.de.

Der Artikel erscheint auf Tagesspiegel Steglitz-Zehlendorf, dem digitalen Stadtteil- und Debattenportal aus dem Südwesten. Folgen Sie der Redaktion Steglitz-Zehlendorf gerne auch auf Twitter und Facebook.

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