zum Hauptinhalt

Berlin: Bilanz eines Studienprojekts

Schickt sich ein Buch an, einmal "die andere Seite" zeigen zu wollen, dann ist damit zumeist auch gemeint, dass es um etwas geht, was bislang der Aufmerksamkeit des Lesers entgangen ist. Doch glaubt man Michi Knecht, Herausgeberin des Sammelbandes "Die andere Seite der Stadt.

Schickt sich ein Buch an, einmal "die andere Seite" zeigen zu wollen, dann ist damit zumeist auch gemeint, dass es um etwas geht, was bislang der Aufmerksamkeit des Lesers entgangen ist. Doch glaubt man Michi Knecht, Herausgeberin des Sammelbandes "Die andere Seite der Stadt. Armut und Ausgrenzung in Berlin", so ist die Kehrseite der Hauptstadtwerdung Berlins inzwischen unübersehbar: "Das Nebeneinander von innerstädtischen Konsumwelten und stagnierenden Peripherien, von Boom und Zukunftslosigkeit bildet den widersprüchlichen Rahmen städtischer Alltagserfahrung, innerhalb dessen sich neue soziale Grenzziehungen, sichtbare und unsichtbare, permanente wie transitorische Formen von Armut und die größer werdende Schere zwischen kleinen und großen Einkommen stärker bemerkbar machen."

Das ist natürlich unverkennbar der Jargon universitärer Hörsäle, und tatsächlich ist Michi Knecht Mitarbeiterin am Institut für Europäische Ethnologie der Berliner Humboldt-Universität. Hat sich einem jedoch der hölzerne Satz des einleitenden Essays erschlossen, umreißt er zutreffend das Anliegen der folgenden Textsammlung, Einblicke in das Stadtgeschehen jenseits der Neubauten am Potsdamer Platz zu geben.

Das Buch ist das Ergebnis eines viersemestrigen ethnografischen Studienprojektes, dessen studentische Teilnehmer in einer Mischung aus wissenschaftlicher Analyse und Reportage über verschiedene Formen der Armut und auch die Orte, an denen sie sichtbar wird, berichten. Die Autoren haben Stammgäste in einem Imbiss porträtiert, sich in Obdachlosenunterkünften umgeschaut oder die Mechanismen untersucht, die bestimmte Stadtteile in der öffentlichen Wahrnehmung als Ghettos stigmatisieren. Schließlich zeigen sie den Umgang mit Armut innerhalb alternativer Lebensformen wie Wagenburgen oder der städtischen Boheme auf.

Michi Knecht räumt die Lückenhaftigkeit der Sammlung ein; es wird nicht der Anspruch erhoben, einen repräsentativen Überblick zu leisten oder Ursachenforschung zur Armut zu betreiben. Diese Bescheidenheit ist angebracht, denn richtig neu ist der präsentierte Stoff nicht - die dargestellten Lebenswelten und Lageanalysen sind in häufig stringenterer Form durchaus beliebter Stoff auch für Tageszeitungen. Dennoch sind besonders die Langzeitreportagen, in denen etwa der Abriss von 60 Häusern in der Neuköllner Wederstraße und das Schicksal ihre Bewohner dokumentiert wird, trotz der Langatmigkeit der Texte lesenswert. Nicht zuletzt, weil in den Beobachtungen zuweilen eine gewisse Überraschung durchscheint, dass es tatsächlich solch eine zweite Welt da draußen gibt. Und so liegt die Originalität der Texte weniger in der Darstellung einer anderen Seite der Stadt, als vielmehr in der Perspektive der Studenten auf das neue Berlin.Michi Knecht (Hrsg.): Die andere Seite der Stadt. Armut und Ausgrenzung in Berlin. Reihe "Alltag und Kultur", Band 5. Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 1999. 346 Seiten, 38 DM.

Alexander Pajevic

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false