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Der Abstand zwischen Kugel und Ziel wird mit dem Lineal exakt ausgemessen.

© Mike Wolff

Boule in Berlin: Ran ans Schweinchen

Mal eine ruhige Kugel schieben oder einen Superwurf schaffen. Beim Boule ist alles drin. „Das Wunderbare an diesem Sport ist das Miteinander“, sagen die Fans.

Ein Sommerabend in Kreuzberg. Urlaubsstimmung liegt in der Luft. Es mag an den milden Temperaturen liegen oder an der Abendsonne, die das Ufer des Landwehrkanals in ein weiches Licht hüllt. Oder an den vielen entspannt wirkenden Menschen in legerer Freizeitkleidung. Vielleicht aber auch an diesem angenehmen Hintergrundgeräusch: ein immer wiederkehrender, satter, klickender Ton. Wie ein Signal zum Loslassen, zum Ankommen.

Der Ton stammt von kleinen Metallkugeln, die gegeneinander schlagen. Unscheinbar grau sind sie, manche haben schon Macken und Kratzer, andere kleine Roststellen. Und doch sind sie der Grund, warum hier zwischen Forster und Liegnitzer Straße an jedem Freitagabend, wenn das Wetter es irgendwie zulässt, bis zu 100 Menschen zusammenkommen.

Auch an anderen Wochentagen wird der Schotterplatz mit seinen eingefassten 15 Bahnen gern zum Boulespielen genutzt. Da geht es dann geruhsamer zu. Man trifft sich nach Feierabend auf ein Bierchen, tauscht die letzten Neuigkeiten aus und schiebt im wahrsten Sinne des Wortes eine ruhige Kugel. So wie Franz, der mehrmals die Woche hier für ein Spielchen vorbeikommt. „Das Tolle an Boule ist, dass man rasch kleine Erfolgserlebnisse hat. Und, das man Gelassenheit lernt. Denn der Erfolg kommt und geht“, sagt der 61-Jährige, als er seine drei Kugeln aus der Stofftasche holt.

Ein bisschen passt Franz in das gängige Klischee-Bild: ältere Männer mit Baskenmützen, die bei einem Glas Rotwein und einer Selbstgedrehten auf den Marktplätzen französischer Dörfer Boule spielen. Wer sich am Landwehrkanal aber an den besonders gut besuchten Freitagabenden umschaut, an denen der „1. Boule Club Kreuzberg"“ wöchentlich zu einem offenen Turnier für jedermann einlädt, wird schnell eines Besseren belehrt: da spielen muskulöse junge Surfertypen gegen resolute Frauen in den besten Jahren. Da diskutiert die 16-jährige Schülerin, die seit kurzem im Nationalkader spielt, mit dem promovierten Mathematiker madagassischer Herkunft und mit dem Hartz-IV-Empfänger über die richtige Taktik für den entscheidenden nächsten Wurf. Denn Wurfarten und Spieltaktiken gibt es beim Pétanque, wie die verbreitetste Boule-Variante korrekt heißt, reichlich.

Für Boule braucht es ein genaues Auge und einen ebenen Untergrund.
Für Boule braucht es ein genaues Auge und einen ebenen Untergrund.

© Mike Wolff

Ziel des Spieles ist es, seine Kugeln näher an der Zielkugel – in Kreuzberg gerne Sau, oft auch Schweinchen genannt – zu platzieren als der Gegner. Geworfen wird aus einem selbst gezogenen Kreis aus der Hocke oder dem Stehen. Als nächstes werfen muss immer die Mannschaft, die gerade keinen Punkt gemacht hat. Welche Mannschaft in einem Durchlauf, einer „Aufnahme“, zuerst 13 Punkte erzielt, gewinnt das Spiel. Beim offenen Turnier in Kreuzberg, einem so genannten Supermêlée, wird nach Auslosung der Mannschaften über zwei Runden, Halbfinale und Finale im Triplette, also drei gegen drei, gespielt.

Nina Galla, Fachreferentin für die Fraktion die Linke im Bundestag im Bereich „Künstliche Intelligenz“ sowie Helmut Hehn, pensionierter Sozialarbeiter, liegen mit ihrer Mannschaft derzeit zwei Punkte zurück. Mit einem guten Wurf könnten sie wieder Boden gut machen. Doch lieber legen, also die eigene Kugel so nah wie möglich an der Sau platzieren oder besser schießen, eine der gegnerischen Kugeln wegstoßen, um zu punkten? Das ist wie so oft beim Pétanque die entscheidende Frage. „Ich spiele hoch 'rein und versuche, das Schweinchen mit nach hinten zu nehmen“, entscheidet Galla, die solche strategischen Überlegungen besonders mag, nach längerer taktischer Diskussion und stellt sich in den Kreis. Ein paar konzentrierte Sekunden, eine kontrolliert schwungvolle Armbewegung, ein kurzes Kippen und Öffnen des Handgelenks und die Kugel der 46-Jährigen fliegt in hohem Bogen über die gegnerischen Kugeln hinweg, stößt das rosafarbene Schweinchen an und platziert es in unmittelbarer Nähe der eigenen, zuvor gespielten Kugeln. Das Ergebnis des so genannten Portée-Wurfes: Drei Punkte in dieser Aufnahme. Es ist also wieder alles offen. Die Spieler lächeln sich an.

Beliebte Bahnen: Bis zu 100 Menschen kommen hier zum Boulespielen zusammen.
Beliebte Bahnen: Bis zu 100 Menschen kommen hier zum Boulespielen zusammen.

© Mike Wolff

Selbst wenn Gallas Wurf daneben gegangen wäre, wären kaum bösen Worte gefallen oder hätten die Gegner hämisch reagiert. Denn auf einen respektvollen Ton wird auf dem Boulodrome, wie ein Bouleplatz auch genannt wird, viel Wert gelegt. „Das Wunderbare an diesem Sport ist das Miteinander. Und auch die integrativen Faktoren“, schwärmt Hehn, Vorstand beim 1. BC Kreuzberg.

So könnten nicht nur Frauen und Männer, Jung und Alt miteinander spielen, sondern zum Beispiel auch Menschen im Rollstuhl, Übergewichtige oder hörbehinderte Kinder, sagt der 63-Jährige, der viele Jahre mit Schülern und Arbeitslosen mit Behinderung gearbeitet hat. Tatsächlich ist das heute verbreitete Pétanque aus einer sportlicheren Variante, dem Jeu Provençal, entstanden, das über längere Distanzen und mit Anlaufschritten gespielt wird, also wesentlich mehr Fitness voraussetzt.

Die Kugeln der Spieler haben ihre Eigenheiten: kleine Kratzer, Stöße oder Roststellen.
Die Kugeln der Spieler haben ihre Eigenheiten: kleine Kratzer, Stöße oder Roststellen.

© Mike Wolff

Hehn selbst spielt seit fast 30 Jahren. An der Grenze zum Elsass aufgewachsen, ist er als Jugendlicher mit seinen Freunden oft mit dem Fahrrad über die Grenze nach Frankreich gefahren und hat den Dorfbewohnern beim Spielen zugeschaut. Damals wurde sein Interesse für diesen Sport geweckt. „Als ich dann Anfang der 1980er Jahre in Kreuzberg anfing, selbst zu spielen, mussten mir die alten Hasen erst zeigen, dass man gegnerische Kugeln auch wegschießen kann“, erinnert er sich lachend. Dann entschuldigt er sich schnell. Er muss sich jetzt wieder konzentrieren, die nächste von noch vielen Aufnahmen steht an.

Am Ende des sommerlichen Pétanque-Abends, der sich bei gekühlten Getränken und zwischenzeitlichen Stärkungen an der Bratwurst-Theke bis gegen 23 Uhr erstreckt, wirken alle, Gewinner wie Verlierer, glücklich und zufrieden. Das nächste schöne Spiel kommt schließlich bestimmt.

Eva Steiner

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