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Canisius-Kolleg: "Viele Priester hätten nie Lehrer werden dürfen"

Ein Ehemaliger erzählt, wie die rigide Sexualmoral der katholischen Kirche die Jugendarbeit belastete.

Die katholische Jugendarbeit der Jesuiten war ein Teil unseres Lebens: Unsere Väter waren mit diesen Priestern im kirchlichen Widerstand gegen die Nazis, es war selbstverständlich, dass ein Jesuitenpater uns Kinder taufte, ein Pater, der das KZ überlebt hatte. Wir sind mit liberalen, weltoffenen Geistlichen aufgewachsen. Meine Brüder gingen auf das Canisius-Kolleg, und gemeinsam mit jenem Wolfgang S. ging es zu einem dutzend Ferienlager. Wir waren knapp 18 Jahre alt. Wir hielten ihn für ein wenig verklemmt, verschroben, aber er war kein Monster, das Potenzial seiner sexuellen Gewalt erahnten wir nicht. Wir vertrauten ihm, schätzten ihn für die offene Jugendarbeit. Er missbrauchte unser Vertrauen. Unverantwortlich, dass die deutsche Provinz der Jesuiten ihn uns als geistlichen Leiter der Jugendarbeit zuteilte.

Wir wollten damals Aufbruch innerhalb der katholischen Kirche, wir waren mit den Debatten der 68er aufgewachsen. Die Fenster waren uns durch das zweite vatikanische Konzil nicht weit genug geöffnet worden: Wir verstanden die kirchlichen Erklärungen nicht; wie eine Blinder über die Farbe, so sprach die Amtskirche über unser Leben, vor allem über unsere Sexualität. In einer Broschüre mit dem Titel „Ehe vor der Hochzeit“ aus dem Jahre 1971 hieß es: „Durch den vorehelichen Geschlechtsverkehr verlieren nicht wenige Mädchen den sittlichen Halt, so dass sie auf die Stufe des Dirnentums abgleiten.“

Der voreheliche Geschlechtsverkehr widersprach für uns nicht der christlichen Lehre. Auch homosexuelle Beziehungen fanden wir alles andere als kriminell. Die Amtskirche hatte kein Verständnis für uns und wir setzen die Hoffnung in die Jugendpfarrer und die jungen katholischen Priester. Nur wir fragten nicht: Wie geht es euch dabei? Wir setzen einfach voraus, dass diese so dachten wie wir. Dass sie völlig überfordert waren, orientierungslos mit ihrer eigenen Sexualität im Orden lebten, das sahen wir nicht.

Es waren die Jahre des sexuellen Missbrauchs am Canisius-Kolleg, und die Kluft zwischen den Ansprüchen des Kirchenapparates und unserem Alltagsleben wurden immer größer. Wir durchbrachen Tabus und setzten uns ganz offen mit unseren sexuellen Bedürfnissen auseinander. Zusätzlich entstaubte die staatliche Schulbürokratie antiquierte Aufklärungsbücher: Doch diese Unterrichtsinhalte kamen im Canisius-Kolleg nicht an.

Dass vor allem junge, labile Jesuitenpater, eingesperrt in die Körper- und Sexualfeindlichkeit des Keuschheitsgelübdes krank werden mussten, ihre Gefühle selbst nicht verstanden, hätte die Leitung des Jesuitenordens erkennen müssen. Es gab für diese keine Anlaufstelle. Dafür wussten wir, welche Priester eine Freundin hatten, wie viel Alimente das Bischofsamt für uneheliche Priesterkinder zahlte, wie viele homosexuelle Priester es gab. Wir sahen oft ihre Hilflosigkeit – ihre Perversitäten, ihre Komplexe blieben uns verborgen, andere litten darunter auf grausame Art und Weise. Die Priester glaubten mit ihrer theologischen Kompetenz über Gut und Böse menschlicher Sexualität urteilen zu dürfen. Sie hätten nie Pädagogen werden dürfen. Es gibt eben keine katholische Erziehung, es gibt nur eine gute oder eine schlechte.

Priester, die wie wir nach emotionaler Nähe suchten, nach gegenseitiger Hinwendung, die ihre sexuellen Bedürfnisse ausleben wollten, gründeten eine Familie oder bekannten sich offen zu ihrer Homosexualität. Einige erkrankten, prügelten Jungen ohne Grund zur eignen Befriedigung, wieder andere verübten sexuellen Missbrauch.

Summa summarum: Seelisch verkrüppelte Gottesdiener, eine Dogmatisierung der Sexualmoral, das darf es nicht gewesen sein. Die Wut über frömmelnde Sprüchemacher, die mitverantwortlich sind, dass christliche Gebote außer Kontrolle gerieten, wird bleiben. Die Strukturen der Kirche und des Ordens haben wissend das Leid von Christen in Kauf genommen. Feiglinge helfen jetzt dem deutschen Katholizismus nicht weiter. Ansgar Hocke

Der Autor ist RBB-Redakteur

Ansgar Hocke

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