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Berlin: Christiane Markert-Wizisla (Geb. 1961)

„Was werdet ihr machen zum Advent, wenn ich einmal nicht mehr da bin“

Es gibt ein Foto von Christiane Markert-Wizisla, Ende Oktober in Mexiko. Es ist kurz vor den Días de los Muertos, dem mexikanischen Totenfest, und die Calaveras, Skelette aus Pappmaché oder Gips, sind in den Straßen und Hauseingängen aufgestellt. Christiane posiert vor einer dieser Figuren, wie es Touristen tun, wenn sie etwas in Erinnerung behalten wollen, das anders ist als zu Hause. Der Umgang mit dem Tod zum Beispiel. Dieser Tod hat etwas Lustiges, der Schädel ist von ungelenker Hand gemalt, die Arme aus orangefarbenen Federn. Eine streift sanft über Christianes rechte Wange. Sie sieht gut aus auf dem Foto. Überhaupt ist sie mit den Jahren immer schöner geworden.

Eine Woche später ist sie tot. Es gab keine Ankündigung, sie fiel einfach um. Ein Blutgerinnsel hatte sich von den tiefen Venen des Beins auf den Weg in die Lunge gemacht.

Plötzlich bekam alles eine Bedeutung. Jede Geste der Müdigkeit, jede Ahnung, jede Enttäuschung. Auch dass ihre Mutter mit 52 nach einer Operation an einer Lungenembolie gestorben war. „Was werdet ihr machen zum Advent, wenn ich einmal nicht mehr da bin“, hat sie im letzten Jahr gesagt. „Solche Sätze fallen uns jetzt ein“, sagt Erdmut, ihr Mann.

Sie hatte keine Angst vor dem Tod. Als sie Mitte der neunziger Jahre ihre Pfarrstelle in Mühlenbeck bei Berlin übernahm, gehörte die Trauerbegleitung zu ihren Aufgaben. An einem runden Geburtstag eines ihrer Gemeindemitglieder stand sie mit einem Blumenstrauß vor der Tür, da war der alte Mann gerade gestorben. Sein Sohn fragte hilflos, wen er denn jetzt anrufen solle. Niemanden, sagte sie und bat um Kerzen. Sie saßen dann eine Weile neben dem aufgebahrten Toten und nahmen gemeinsam Abschied.

Aufgewachsen war sie als fünftes Kind einer streng protestantischen Familie in Kaltensundheim. Auch im thüringischen Teil der Rhön war die Welt nach Fulda ausgerichtet, nicht nach Meiningen oder Suhl. Vor dem Bau der Grenzanlagen hatte der Vater Flüchtlinge in den Westen geführt. Ein Freund, der häufig die Weihnachtstage bei Christianes Familie verbrachte, erinnert sich an eine erstaunlich freie Atmosphäre. Obwohl das Dorf in Sichtweite des Sperrzauns lag, war es, „als wäre das Land nie geteilt worden, als wäre das alles eine vorübergehende, aber zu vernachlässigende Laune der Geschichte“.

Sie hatte nur Einsen auf dem Zeugnis und durfte dennoch nicht das Abitur auf der Erweiterten Oberschule machen – weil ihre Familie der Kirche so nah stand. Deshalb machte sie eine Lehre, „Baufacharbeiter mit Abitur“. In Suhl bei einem oppositionellen Montagskreis und später beim Studium der Theologie, erst in Leipzig und später in Berlin, fand sie Gleichgesinnte, in Prenzlauer Berg jene Mischung aus Künstlern, Bohémiens und Theologen, die diesen Ort für einen Moment der Geschichte so besonders machte. Sie war mittendrin und immer bereit, sich mit Lust am messerscharfen Streit mit denjenigen anzulegen, deren Ansichten sie nicht ernst und tiefgründig genug fand. Macho-Attitüden waren ihr suspekt, auch ein Grund, warum sie sich der feministischen Theologie zuwandte.

„Beziehung heißt Konflikt“, sagte sie. Als ihr langjähriger Freund sie mit einer anderen betrog, hat sie das, woran er am meisten hing, seine Werkzeugtasche, kurzerhand aus dem vierten Stock in den Hof fallen lassen. Dann schickte sie ihn fort. Kurze Zeit später lernte sie ihren späteren Mann Erdmut kennen. Zwischen dem zweiten theologischen Examen und der Promotion über Elisabeth Malo als Vorläuferin der feministischen Theologie im wilhelminischen Deutschland wurden die Töchter Laura und Rosa geboren.

Am Berliner Sprachenkonvikt, wo sie eigentlich nur ein Semester bleiben wollte und dann sechs Jahre lang studierte und lehrte, hat sie von ihren Lehrern Richard Schröder und Wolfgang Ullmann vor allem theologische Leidenschaft gelernt, aber auch eine Freiheit im Denken, die in der DDR alles andere als selbstverständlich war.

Als sie in der Zeit der Wende den Unabhängigen Frauenverband mitbegründete, war sie eine derjenigen, die die kritischsten Fragen stellte und zugleich immer wieder Konflikte ausgleichen konnte. Sie kannte alle Klischees, die es über feministische Theologinnen gab und unterlief eins ums andere. Nie ging sie ohne Lippenstift aus dem Haus, selten ohne Handtasche. „Manche Entwicklungen ziehen eine tröstliche Selbstironie nach sich“, hat sie über den Feminismus gesagt und konnte doch vehement vor der älteren Tochter die Ansichten der „Emma“ verteidigen, auch wenn sie sie oft nicht oder nicht mehr teilte.

Als Leiterin der Frauen- und Familienarbeit der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg setzte sie sich für die Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution ein. Sie war enttäuscht, als sie zuletzt nicht die Verantwortung übernehmen konnte, die sie sich gewünscht hatte. Ihr wurde ein Mann vorgezogen.

Aber da waren noch andere Dinge, Reisen zum Beispiel, nach Argentinien und mit dem Chor nach Mexiko. „Ich werde daran denken, dass das Leben kurz ist und wir nicht auf bessere Zeiten warten können. Heute leben wir. Heute ist Advent. Heute kommt Gott zu uns“, sagte sie im letzten Dezember in einer Radioandacht.

Ihre Familie hat alles so gemacht, wie sie es getan hätte. Das Gesteck, der Adventskalender im Flur, Plätzchenbacken. Es ist still im Potsdamer Haus. Für den dreistimmigen Kanon fehlt ihre Stimme.

Die Radioandacht beendete sie mit den Worten: „Ich wünsche allen, dass da am Ende etwas unermesslich Schönes auf Sie wartet. Dass Gott Sie empfängt.“ Annett Gröschner

Annett Gröschner

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