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Alexey Alexandrovich Kalachev (1952-2018)

© privat

Nachruf auf Alexey Kalachev (Geb. 1952): Da wird schon was zu machen sein

Alles ist Chemie, also kann ein Chemiker auch alles regeln. Davon war er fest überzeugt. Und stieß doch manchmal auf ganz andere Probleme.

Von David Ensikat

Nicht, dass er besonders gut bei Stimme war. Es galt nur, seinen Freund, den damals etwas schwermütigen Sänger, aufzumuntern. Zuerst hatte er der Frau des Sängers 100 Euro in die Hand gedrückt. Sie solle damit ordentlich Fleisch einkaufen; ein gutes Essen bringe ihren Mann schon wieder zu sich. Die Frau bezweifelte, dass Fleisch helfen würde. Er überlegte weiter; da musste doch was zu machen sein. Es ist immer was zu machen! Ein Ermutigungslied zu dritt, der Sänger, des Sängers Frau und er. Und wenn sie es schon singen würden, müssten sie es auch aufnehmen, und wenn sie es schon aufnehmen würden, müssten sie es auch veröffentlichen. Also setzten sie sich sowjetische Panzerfahrerkappen auf die Köpfe, machten Fotos voneinander, sangen das Lied von den drei Panzerfahrern, und stellten es ins Internet. Auf Youtube kann nun jeder den Sänger, seine Frau und den international anerkannten Chemiker Alexey Alexandrovich Kalachev mit der nicht ganz so festen Stimme „Tri Tankista“ schmettern hören. Außerdem hat das Lied geholfen, die Stimmung des Sängers aufzuhellen. Alexey hatte eine Idee, und die war nicht nur gut, sondern auch ohne Weiteres umzusetzen.

Gut für die Arbeit, schlecht für den Rest

Ideen hatte er nämlich andauernd, da ging es meistens um Probleme, die nicht unbedingt komplexer waren als die Schwermut eines Sängers. Sie befanden sich nur in einer Dimension, die dem Menschen nicht so leicht zugänglich ist. Wer auf atomarer Ebene unterwegs ist, mit Molekülstrukturen im Plasma operiert, der benötigt Gerätschaften, Mitarbeiter, Labore, Zeit und Geld.

Alexey Kalachev entstammte einer Wissenschaftlerfamilie, und obgleich (wahlweise: weil) sich seine Eltern mehr der Wissenschaft widmeten als ihm, begab er sich in ihre Sphäre. Er studierte Chemie, tat sich als Ausnahmetalent hervor, wurde Mitglied der Akademie der Wissenschaften, und als die zerfiel, weil die Sowjetunion zerfiel, ging er nach Deutschland, ans Mainzer Max-Planck-Institut, arbeitete mit Physikern der Berliner Humboldt-Universität zusammen, gründete die Firma „PlasmaChem“ und z

Der Chemiker im Labor.

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Die Firma kam in Adlershof unter. Er natürlich auch, warum sollte er woanders wohnen? Er tat es seinen Eltern gleich und lebte mehr für seine Arbeit als für den Rest des Lebens. Was gut für die Arbeit war und schlecht für den Rest: Die Frau, mit der er seit ein paar Jahren zusammen lebte, zog zurück nach Moskau. Die gemeinsame kleine Tochter nahm sie selbstverständlich mit und verwehrte in ihrer Wut dem Vater den weiteren Kontakt.

Immerhin, den Sohn aus seiner frühen Ehe sah er hin und wieder, wenn er in Moskau war. Seine Frau von damals war nicht so schlecht auf ihn zu sprechen. Sie schickte regelmäßig viel zu große Strickjacken, die er brav trug. Auf sein Äußeres achtete er ebenso wenig wie auf sein Inneres. Er zählte nicht die Zigaretten pro Tag, sondern die Schachteln, und betrachtete Bestimmungen zum Arbeitsschutz als Vorschläge für Leute mit zu viel Zeit. Eine Kollegin meint, dass er ein ganz normaler Chemiker gewesen sei. So einer legt halt seine Pausenbrote neben die brodelnden Versuchsanordnungen und filtert die Luft mit seiner hart trainierten Chemikerlunge.

Aus der riesigen Menge seiner Ideen und Erfindungen seien zwei halbwegs nachvollziehbare genannt. „PlasmaChem“ überzog Stents, mit denen verengte Herzgefäße erweitert werden, mit einer extrem dünnen Diamantschicht. Sie verhinderte, dass aus den Implantaten Metalle in den Körper drangen. Und dann die Sache mit den Kontaktlinsen. Alexey Kalachev entwickelte ein Verfahren, um Linsen aus Silikon derart zu beschichten, dass sie monatelang getragen werden können. Das war so aufwendig, dass er dafür mit einer anderen Firma und Investoren zusammenarbeiten musste, obwohl er sonst höchsten Wert auf seine Eigenständigkeit legte. Folglich ging die Sache schief; zu kompliziert das Ganze und vor allem nicht so profitabel wie der Verkauf von Linsen, die öfter auszuwechseln sind.

Dabei war er ganz und gar nicht der Mann, der auf die Profite achtete. Das machte es für die Mitarbeiter zuweilen etwas anstrengend, wenn es wieder mal unklar war, ob und wie es mit der Firma weitergehen würde. Manche fanden, der Chef, Obererfinder, Geschäftsführer und Buchhalter in einem, kultiviere das Bild des leicht entrückten Genies ein wenig zu sehr. Er kam um drei am Nachmittag und blieb bis drei am Morgen, sonderte pausenlos Ideen ab, die genial sein mochten, sich aber schnell als viel zu teuer erwiesen. Er sprach ein lausiges Deutsch, da unter Wissenschaftlern Englisch völlig ausreicht, und auch sein Englisch klang ausgesprochen russisch.

Dann kam er überhaupt nicht mehr

Mit Deutschen hatte er jenseits des Wissenschaftsbetriebes ohnehin nicht viel zu tun. Seine knappe freie Zeit verbrachte er mit russischen Freunden, lud sie in russische Restaurants ein, fand die Idee der Zarenherrschaft sehr vernünftig und sang gern die Gassenhauer aus der Sowjetzeit. Die russische Staatsbürgerschaft behielt er, obwohl die deutsche praktischer für seine vielen Dienstreisen gewesen wäre. Er stieß auch gern mit Wodka an, was soll’s, er fuhr sowieso mit dem Taxi nach Hause. Auto fahren konnte er erst gar nicht. U- und S-Bahn überraschten ihn zwar, als sie ihm jemand zeigte – was für eine praktische Einrichtung! Aber er bevorzugte dann doch den Wagen, der ihn bis zur Haustür brachte.

Alexey Kalachev starb den Rauchertod, was an sich nicht überrascht. Nur hat er, als er vom Lungenkrebs erfuhr, niemandem etwas davon gesagt. Offenbar nahm er die Sache generell nicht so ganz ernst. Oder er dachte: Da wird schon was zu machen sein. Es ist doch immer was zu machen. Er sonderte weiter seine Ideen ab, machte Pläne für die Firma, war dann mal nicht da, es hieß, er habe eine Lungenentzündung. Und dann kam er überhaupt nicht mehr.

Es gibt kein Testament. Seine beiden Moskauer Kinder sind die Erben, die inzwischen 16-jährige Tochter, die ihren Vater so gut wie gar nicht kennt, und der Sohn von 48 Jahren, der mit Nanoteilchen und Plasmen etwa so viel zu tun hatte wie sein Vater mit der Kindererziehung. Die Firma gibt es noch, sie produziert Nanoteilchen im Plasma. Und es gibt die Erinnerung an einen Mann, der ein großartiger Freund war, und der davon ausging, dass letztlich alles in dieser Welt Chemie ist und ein Chemiker die Dinge regeln kann. Wenn alles andere nicht hilft, singt er ein Lied.

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