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Berlin: Das Einheits-Modell

Nirgendwo war die Teilung spürbarer als in der deutschen Hauptstadt. Und nirgendwo waren die Umbrüche nach dem Mauerfall größer als hier – für Ost wie West. Trotzdem wurde die Metropole zum Schrittmacher der Vereinigung – Von Hermann Rudolph

Wer nicht genau aufpasste, konnte vor 20 Jahren diese wichtige Etappe in der Geschichte der Stadt glatt übersehen. Denn am 2. Oktober 1990 stand Berlin ganz im Zeichen der Feiern der deutschen Wiedervereinigung – Volksfest „Unter den Linden“, Festakt im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, Verkündung der Einheit vor dem Reichstag. Dass in der großen Wiedervereinigung wie die Puppe in der Puppe auch die Wiedervereinigung Berlins steckte, ging dabei fast unter. Doch an diesem 2. Oktober wurde mit der Aufgabe der Hoheitsrechte der westlichen Alliierten auch die Stadt vereint. Und berlinisch gefeiert: Festakt im Abgeordnetenhaus, Essen im Schloss Charlottenburg, Empfang in der Philharmonie.

Diese Wiedervereinigung beendete die Teilung nicht nur an jenem Punkt, an dem sie so spürbar gewesen war wie nirgendwo sonst. Hier erfüllte sich die Wiedervereinigung in der spektakulären Wiederherstellung einer ganzen Stadt. Aus dem Berlin, das es als ganzes 40 Jahre nicht mehr gegeben hatte, das seine Mitte verlor, dessen östlicher Teil den westlichen hartnäckig befehdete – und die andere Hälfte auf den Stadtkarten in ein konturloses Grau tauchte –, wurde wieder eine Stadt. Michael Blumenthal, der Gründer des Jüdischen Museums, selbst alter Berliner, sieht in diesem Vorgang in seinen Erinnerungen nichts Geringeres als „das Kernstück und Symbol der wundersamen Wiedergeburt Deutschlands“.

Hat es so etwas schon gegeben? Man kennt keinen vergleichbaren Vorgang. Denn die Öffnung der Mauer hatte ja auch vor aller Augen gestellt, dass die vier Jahrzehnte der Teilung die Stadt getroffen hatten wie die mittelalterliche Strafe des Räderns, bei der dem Delinquenten bei lebendigem Leibe die Glieder zerschlagen wurden.

Das war der Befund, mit dem die Geschichte von der Wiederherstellung Berlins begann: Straßen und Schienen endeten an der Grenze, Sackgassen und wüste Plätze durchsetzten die Stadt. Zerrissen auch die Infrastruktur, das Adernetz der Stadt: S- und U-Bahn getrennt, zugemauerte Geisterbahnhöfe an den Stellen, an denen die West-Berliner U-Bahn den Osten unterquerte, in der Mitte ein hochgesicherter, fuchsbauartiger ost-westlicher Knotenpunkt, der Bahnhof Friedrichstraße. Von den Telefonverbindungen der Millionenstadt waren nur wenige übrig geblieben – 460 von West nach Ost, 113 in die DDR. Gekappt auch Strom-, Wasser und Gasleitungen – kurz: der praktische-technische Zusammenhang einer Stadt. Selbst die Abwasserkanäle waren mit Eisenstäben verrammelt, um Fluchtversuche zu verhindern.

Kaum weniger tief reichten die Spuren der Teilungsjahrzehnte in der Bevölkerung. Als der Senat im Frühsommer 1991 die erste Umfrage in der wiedervereinigten Stadt veranstaltete, stieß er auf massive Scheidelinien. Jeweils 40 Prozent waren überzeugt davon, dass es mehr Trennendes als Gemeinsames gebe. Und nur für 57 Prozent im Osten, für 59 Prozent im Westen überwog noch das Gemeinsame. Gelähmt war selbst die Bereitschaft, von der neuen Offenheit Gebrauch zu machen: Zwar waren fast alle Ost-Berliner in den eineinhalb Jahren seit dem Mauerfall schon im anderen Teil gewesen, die West-Berliner jedoch zu mehr als einem Viertel nicht, bei den über 65-Jährigen waren es sogar 43 Prozent.

Die Begegnung der beiden Städte Berlin war überdies eingetaucht in die aufwühlende Ambivalenz von Freude und Bedenken, von Anspannung und Widersprüchen. Im Schnellkurs wurde das eben noch eingemauerte Berlin zur offenen Stadt. Aufgerissen vor allem ins Morgen und Übermorgen: fünf bis sechs Millionen Bewohner sagten die Wirtschaftsforscher bis 2010 voraus, dazu die Chance, der attraktivste Wirtschaftsstandort im Herzen Europas zu werden. Wie zum Beweis dafür fielen Geschäftsleute scharenweise in die Stadt ein, verbreitete sich Goldgräberstimmung, und im Umland, in dem sich bislang die Füchse gute Nacht sagten, öffnete ein Golfplatz nach dem anderen.

In dieser Stadt war viel zusammenzuflicken, zusammenzuführen, zusammenzufügen. Vor allem am Anfang überschlugen sich die Premieren: Grenzübergänge und Straßenöffnungen, der erste Reichsbahnzug aus Potsdam nach Wannsee, Busverkehr ohne Kontrollen über die noch immer bestehende Grenze, die ersten durchgehenden S-Bahn-Züge. Im Juni 1992 erschien das erste Gesamtberliner Telefonbuch. Aber es dauerte sechs Jahre, bis die Mauer so weit aus dem Stadtbild verschwunden war, dass die Zeit für einen Stadtplan gekommen war, auf dem die Markierung des Mauerverlaufs der Erinnerung nachhalf.

Kaum, dass ihr Zusammenwachsen begonnen hatte, geriet die Stadt außerdem in massiven Gegenwind: Firmenzusammenbrüche, Insolvenzen und Stellenabbau. Die Hiobsbotschaften betrafen vor allem den Osten, der sich als großer Sanierungsfall erwies. Bereits zu Beginn des Jahres 1991 hatte die Arbeitssenatorin von einer sich dramatisch verschlechternden Lage gesprochen. Ende 1991 waren von 200 000 Stellen in Ost-Berlin noch 50 000 übrig. Aber auch die wirtschaftliche Struktur des Westens zeigte ihre Schwäche. Im Herbst meldete der Osten 13 Prozent Arbeitslosigkeit, der Westen 11,3.

Ohne Zögern nahm die Politik Kurs auf das ganze Berlin. Bis zur deutschen Wiedervereinigung sogar für fünf Monate in zweierlei Gestalt: im Westen mit dem Senat, im Osten mit dem Magistrat. Deren Zusammenarbeit, mit dem ironisch-spöttischen Kürzel „Magisenat“ belegt, wurde zum Schrittmacher der Einheit. West-Berliner aus Senatsverwaltungen und Bezirken wechselten in den Ostteil, um beim Aufbau der neuen Verwaltung zu helfen. Die politische Sofort-Hilfe mischte in diese Neubelebung der Politik einen heroischen Zug von Aufbruch und hinterließ aufregende Geschichten – Nächte an der einzigen Telefaxleitung von Ost nach West, abenteuerliche Kämpfe mit den Telefonen und Blitzkarrieren, die hilfswillige Studenten in Politik und Verwaltung beförderten.

Mit dem ersten gemeinsamen Abgeordnetenhaus, dem ersten Senat nahm Anfang 1991 das Zusammenwachsen politische Gestalt an: Als eine Stadt, in der die Probleme – wie Eberhard Diepgen (CDU), der neu-alte Regierende Bürgermeister, formulierte – „die Distanz einer Straßenbreite“ hatten. Er steckte den Weg mit ehrgeizigen Vorgaben ab: Berlin solle sich begreifen als „Werkstatt der Einheit“, die Politik so bald als möglich gleiche Lebensverhältnisse in beiden Stadthälften herbeiführen, der „Aufbau Ost“ Vorrang vor dem „Ausbau West“ haben. Alles andere, so bekannte Diepgen im Rückblick, „musste die Stadt zu einem Pulverfass“ machen. Um den Willen zur Vereinigung der Stadt zu dokumentieren, zog die Senatskanzlei am 1. Oktober 1992 vom Schöneberger Rathaus im Westen ins Rote Rathaus nach Mitte, also in den Osten.

Eine besondere Anstrengung galt der Errichtung der gemeinsamen Verwaltung: nicht nur mussten zwei Verwaltungen zusammengeführt, sondern im Ostteil zugleich eine demokratische Verwaltung aufgebaut werden. Beispiel Polizei: Im Oktober 1990 wurde das Gesetz verabschiedet, das West-Polizei und Volkspolizei vereinigte. Auf dieser Grundlage entstand in erstaunlich kurzer Frist ein gemeinsamer Polizeiapparat. Von den rund 10 000 Volkspolizisten, die zu ihren rund 18 000 West-Berliner Kollegen stießen, wurden nur wenig mehr als 1000 ausgesiebt, weil sie politisch kompromittiert waren. Allerdings: nur einer der Ost-Polizisten gelangte dabei in den höheren Dienst.

So schwierig die Prozedur der Vereinigung der Verwaltung war: sie bildete einen Aktivposten der Einheit. Ost-Mitarbeiter bekamen ihre Chance, Ämter und Schulen im Osten wurden erneuert. Nur in der Justiz gab es den harten Schnitt der Versetzung aller Ost-Berliner Richter und Staatsanwälte in den Wartestand und der Übernahme ihrer Aufgaben durch West-Berliner Juristen, mithilfe auch der Reaktivierung von Ruheständlern; etwa 15 Prozent der Ost-Juristen wurden nach einer Überprüfung übernommen. Im August 1991 begann das erste Gesamtberliner Schuljahr. Am Ende 1992 – also rund zwei Jahre nach der Vereinigung – konnte der Regierende Bürgermeister erklären: Der „Rohbau für das neue Berlin steht.“ Sozusagen den Ausbau dieses Rohbaus stellte dann die beispiellose Bauanstrengung dar, die heute das Gesicht der Stadt prägt. „Keine europäische Metropole“, so befand Joachim Fest, selbst einst Berliner, „ist je mit einer so plötzlichen Aufbausituation konfrontiert worden.“ Über viele Jahre hinweg schien es so, als befände sich Berlin tatsächlich „auf der Suche nach der verlorenen Stadt“ (Gerwin Zohlen), zeitweise zweifelten viele, ob Berlin sie je finden werde. Am Anfang stand der Potsdamer Platz: die spektakuläre Verwandlung der öden Fläche in ein erratisches Glas- und Beton-Gebirge. Der Platz wurde – wie der Architekturhistoriker Lampugnani schrieb – zum „Brennpunkt und Prüfstein“ der „einzigartigen Rekonstruktion“ der Stadt. Sie erfasste und erneuerte die gesamte Innenstadt, Straßenzug für Straßenzug, begleitet von heftigen Auseinandersetzung über Architektur und Städtebau.

Über die Jahre hinweg vollzog sich diese Wiederherstellung Berlins als spektakuläres Schauspiel: Schlachten um Immobilien, Wettbewerbe und Planungen, dann die ersten Spatenstiche, Baugruben, Grundsteinlegungen, Kräne und Gerüste. Vor allem suchte die Stadt ihre Mitte wieder zu gewinnen. Noch Mitte der 90er Jahre blieben Gendarmenmarkt und Pariser Platz am Abend friedhofsstill. Dann wurden Konturen des neuen Berlin sichtbar, belebten sich Straßen, bildeten sich urbane Räume. Entstanden war eine neue Stadt, die unverkennbar auch die alte war: Berlin redivivus.

Gar nicht zu unterschätzen ist die Rolle, die dabei die Entscheidung des Bundestags für die Hauptstadt Berlin und den Regierungsumzug spielte. Denn das Regierungsviertel mit der Reichstagskuppel, dem neuen Wahrzeichen der Stadt, und die Platzierung der Ministerien in der Innenstadt modellierten ganz wesentlich das Bild Berlins. Doch allein die Bestimmung der Standorte der Bundesbauten erwies sich als ein mühsamer, über Jahre dauernder Prozess. Erst 1995 stand fest, dass sich die Mehrzahl der Ministerien in der Innenstadt niederlassen und damit das Zentrum der Stadt in die alte Stadtmitte rücken würde, die für ein halbes Menschenalter Osten gewesen war. Dann erst war klar, dass die Regierung auf Neubauten weitgehend verzichten und in restaurierte Altbauten einziehen würde.

Nichts hat Berlin so in Atem gehalten – und genervt – wie dieses langsame Werden der Hauptstadt beim Streiten, Zögern und Gegensteuern. Jahrelang schwankte die Stimmung in Berlin zwischen Erwartung und Depression. Nach vier Jahren sollten Regierung und Parlament in Berlin arbeitsfähig sein, hatte der Bundestag 1991 beschlossen. Es brauchte acht Jahre, bis im Herbst 1999 das Parlament seine Arbeit in Berlin begann. Dann allerdings erwies sich der Umzug bald als Erfolgsstück. Fast von einem auf den anderen Tag war das Tauziehen um die Hauptstadt wie vergessen, nicht anders als die meisten der Vorbehalte, die Berlin entgegengeschlagen waren. Die Stadt, deren Charakter über die Nachkriegsjahrzehnte hinweg geprägt war durch eine melancholische Leere, die überall die Abgründe der Geschichte ahnen ließ, wurde zum Anziehungspunkt für Touristen und junge Menschen aus aller Welt. Und der „Spiegel“, der die Stadt in den Jahrzehnten seit dem Mauerfall oft genug gezaust hatte, stellte 2007 eine Berlin-Geschichte unter den lapidaren Titel Thema „Comeback einer Weltstadt".

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