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Berlin: Das große Groschen-Glück

Von Daniel Wiese Man hatte ihn fast vergessen, den deutschen Arztroman. Oberärzte greifen mit ihren gepflegten Chirurgenhänden nach dem Operationsbesteck, während die Assistenzärztin vor Sehnsucht vergeht.

Von Daniel Wiese

Man hatte ihn fast vergessen, den deutschen Arztroman. Oberärzte greifen mit ihren gepflegten Chirurgenhänden nach dem Operationsbesteck, während die Assistenzärztin vor Sehnsucht vergeht. „Da ist seine hohe Stirn, da sind seine stahlgrauen, zwingenden Augen, das kühne Profil, das energische Kinn, die sportgestählte Gestalt, alles an ihm ist Kraft und Vitalität. Ein Mann, dessen faszinierender Ausstrahlung sich keine Frau entziehen kann!“, denkt es in ihr. Doch leider verliebt sich der Oberarzt in die Patientin Sabine Freytag, eine „Fachärztin für Frauenleiden“ übrigens, die tragischerweise unter Gedächtnisverlust leidet. „Sie ist das Glück, das Leben in seiner ganzen berauschenden Schönheit. Sie ist die Frau, die er sein Leben lang gesucht hat. Ein Stöhnen entringt sich seiner Brust. Ein verzweifelter Schmerz krampft sein Herz zusammen.“

Solche Sätze gibt es derzeit in der Galerie Kampl in Mitte zu hören, und zwar jeden Donnerstag ab acht aus dem Munde von Schwester Cordula. Ihr Kittel ist blendend weiß, sie hat die schlanken Beine übereinandergeschlagen. Energisch blättern ihre gepflegten Finger die Seiten der Groschenhefte um. Schwester Cordula kommt zum ersten Auftritt des Oberarztes: „Ich bin Oberarzt Doktor Rolf Bertram! Wie fühlen Sie sich? Irgendwelche Beschwerden?“ Die Zuhörer in der Galerie stöhnen auf, doch sie wissen, sie müssen da durch. Draußen vor den Fensterscheiben gehen Passanten die Auguststraße entlang. Manche kommen nochmal zurück, gucken durch die Scheibe und fangen an zu lachen.

„Ein unguter Ort –doch besser als die Welt“ heißt die Aktion in der Galerie, bei der Schwester Cordula liest. Anfangs hatte sie eher an eine sprechende Installation gedacht, sagt die Schauspielerin Saskia Kästner. Sie wollte irgendwo im Text anfangen und irgendwo aufhören, die Besucher hätten jederzeit hereinkommen, fünf Minuten zuhören und wieder gehen können. Das Problem war nur, die Leute blieben, und so ist doch eine richtige Lesung daraus geworden. Eine Stunde Arztroman, gekürzt und mit Anmerkungen versehen von Schwester Cordula. Die Zeit wird mit einer Eieruhr gestoppt, vor der Lesung werden Betablocker verteilt.

Mittlerweile hat sich eine Fangemeinde gebildet, die nach den Lesungen über Arztromane diskutiert. Er arbeite im Krankenhaus, sagt ein junger Herr in einem völlig unironisch karierten Hemd, „und ich muss sagen, die Realität ist noch schlimmer“. Schwester Cordula nickt triumphierend.

„Gut, dass das mal jemand sagt“, findet sie.

Doch auch die beste Realität kommt nicht an das Happy End heran, das der deutsche Arztroman bereithält (man beachte den Übergang vom „Sie“ zum „Du“): „Ja, Sabine! Ich liebe Sie, wie man einen Menschen liebt, mit dem man sein ganzes Leben zusammen sein möchte! Ich wäre der glücklichste Mensch, wenn Sie meine Frau werden könnten“, entfährt es Oberarzt Doktor Rolf Bertram, worauf Sabine ihre zitternden Lider hebt. Ihr Gesicht ist von einem inneren Licht durchglüht. „Ich... ich liebe dich auch, du wunderbarer Mensch, du“, stammelt sie. Es ist neun Uhr siebzehn. Die heile Welt hat Feierabend.

„Schwester Cordula liest Arztromane“: donnerstags um 20 Uhr, Projektraum der Galerie Kampl, Auguststraße 35 in Mitte.

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