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Berlin: Das Sommerpaket

Heute öffnen Christos „The Gates“ in New York. 1996 verzauberte sein verhüllter Reichstag ganz Berlin

„Danach fragen immer noch viele Leute“, sagt Sara Geisler. Sie hat gerade wieder ein paar Kunstdrucke verkauft: „Wrapped Reichstag“, unsigniert ab 45 Euro, oder gar signiert, ab 300 Euro. Die junge Amerikanerin arbeitet in der Galerie Unter den Linden, und der verhüllte Reichstag ist noch immer ein Geschäft. Wenn heute Christo und Jeanne-Claude „The Gates“ im New Yorker Central Park eröffnen, wird in etlichen Reden auch Berlin vorkommen, und hier dürften sich viele an jene verrückten drei Wochen im Sommer vor zehn Jahren erinnern. Rund fünf Millionen Besucher kamen, um das Spektakel zu sehen. Oder waren es doppelt so viel? Die Massen entzogen sich seriöser Schätzungen.

Von einem „Glücksfall für die Stadt“ schwärmt Hanns Peter Nerger von der Tourismus-Marketing-Gesellschaft noch heute. Das Kulturereignis habe Berlin als tolerant und weltoffen dargestellt. Und er erinnert gleich an ein anderes Großereignis für „positive Imagewerbung“: Die MoMA-Ausstellung im letzten Jahr.

Die Reichstags-Verhüllung war eine der erfolgreichsten Werbe-Aktionen für Berlin. Ein Kollektiverlebnis, ein millionenfaches Reden über Kunst. Es war ein purer Milliarden-Zuwachs an Kaufkraft und es war – für damalige Verhältnisse revolutionär und doch denkbar bescheiden – ein zusätzlicher langer, verkaufsoffener Sonnabend. Nur einer, zwischen dem Start der Verhüllung am 17. Juni und dem Ende der Enthüllung am 10. Juli. Läden für touristischen Bedarf durften immerhin täglich bis 22 Uhr öffnen.

Um das Reichstagsgebäude, das noch ohne Kuppel auf den Umbau wartete, wurde eine Bannmeile gezogen. Geschäftemachen war im Umkreis von 100 Metern verboten, fotografieren dagegen erlaubt, nicht jedoch die Vermarktung der Fotos. 1200 unauffällige Bewacher, „Monitore“ genannt, erläuterten das Projekt und verteilten kleine Stücke des silbrig-glänzenden Polypropylen-Gewebes, damit niemand an der Hülle herumschnippelte. An der Straße des 17. Juni und Untern den Linden waren Stände aufgebaut, Galeristen verkauften autorisierte Christo-Arbeiten. In Pavillons am Pariser Platz, am Schloss- und am Alexanderplatz sowie am Potsdamer Platz wurden Panorama-Bilder gezeigt, wie die Plätze im Jahr 2005 aussehen könnten. Die Durchfahrt durchs Brandenburger Tor, damals noch heftig umstritten, wurde ausnahmsweise gestattet. Der Tagesspiegel kam mit einem Sonderdruck heraus, lud Christo und Jeanne-Claude zum Signieren ein. Statt vereinbarter 60 Minuten blieben die Künstler fünf Stunden – tausende Leser hatten Schlange gestanden. Und das schon Stunden vor Beginn der Aktion um 5 Uhr morgens.

Die ehemalige Kongresshalle hatte eine Aufgabe als Informationszentrum für die Enthüllung, der Bundestag baute hinter dem Reichstagsgebäude ein Zelt auf, um über den Stand seiner Bauplanungen zu informieren. Der Senat postierte einen Info-Bus unter den Linden/Ecke Wilhelmstraße. Es gab ein verhältnismäßig bescheidenes kulturelles Rahmenprogramm. Da eine große Ausstellung zu Christos Schaffen im Alten Museum gescheitert war, ging eine kleinere Schau im Kunstforum der damaligen Grundkreditbank an der Budapester Straße über die Bühne. Lediglich die Bezirke Kreuzberg und Mitte stellten mit „Summertime 95“ ein Kulturprogramm auf die Füße.

Die Menschen rund um den Reichstag sahen wie auf eine Bühne, sagten „irre, geil und toll“ und bewunderten das Flattern von 100 000 Quadratmetern Stoff. Es war wie ein Waldbühnenkonzert ohne Musik. Im Pressezentrum konnte man die Kamerateams aus den USA, Japan und allen europäischen Ländern kaum zählen, der SFB sendete über die Reichstagsverhüllung von 6 bis 23 Uhr, Berliner CDU-Politiker wie Eberhard Diepgen– damals Regierender Bürgermeister – riefen „Auf zu Christo“. Auch wenn Kanzler Helmut Kohl das Projekt mit Missachtung strafte.

Der verhüllte Reichstag wird als Druck, Foto oder Collage noch allerorts und in vielfältigem Maßstab bewundert und gekauft. Sara Geisler verkaufte kürzlich allein an eine italienische Familie fünf signierte Drucke. Nur die Postkarten sind inzwischen knapp geworden.

Christian van Lessen

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